Seit der Präsidentschaftswahl am 9. August kam es in Belarus zu massiven Protesten, an denen sich vergangene Woche zum wiederholten Mal über 200.000 Menschen allein in der Hauptstadt Minsk beteiligten, um gegen den Wahlbetrug und das autoritäre Regime zu protestieren. Die aktuellen Proteste gelten jetzt schon als die wichtigsten politischen Ereignisse seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991.

Keine Wahl seit 1994, bei der Präsident Lukaschenko an die Macht kam, war frei und fair. Bisher wurden Wahlfälschungen jedoch schulterzuckend von dem Großteil der Bevölkerung hingenommen, da die Situation aussichtslos schien. Lukaschenko ist zwar generell nicht besonders beliebt, aber da die traditionelle Opposition nie eine ernsthafte Alternative darstellen konnte, wurde der Präsident als das notwendige Übel akzeptiert. Dies sollte sich jedoch mit jener Wahl ändern, bei der es Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gelang, die größtenteils apolitische Bevölkerung zu mobilisieren. Zichanouskaja, ursprünglich Englischlehrerin, besaß zuvor keine politische Erfahrung, und brachte dennoch die Proteste gegen das Regime um Präsident Lukaschenko in Gang.

Der Einfluss der Covid-19-Pandemie

Ein entscheidender Faktor für die Proteste war Lukaschenkos Umgang mit der globalen Pandemie. Entgegen der meisten Länder weltweit, entschied er sich gegen einen Lockdown, um die ohnehin schon schwache Wirtschaft zu retten. Wiederholt demonstrierte er öffentlich, das Virus nicht ernst zu nehmen, bezeichnete es als „Psychose“ und empfahl der Bevölkerung, Wodka zu trinken, in die Sauna zu gehen und Traktor zu fahren, um gesund zu bleiben. In den letzten Monaten stiegen die Covid-19-Fälle im Land dramatisch an und es kam zu Problemen bei der Gesundheitsversorgung. Der laxe Umgang der Regierung mit der Krise sorgte für Unmut in der Bevölkerung. Besonders deutlich wurde das staatliche Fehlverhalten als Lukaschenko darauf bestand, am 75. Jahrestags der Niederlage von Nazideutschland die übliche Parade durch Minsk mit über 3.000 Soldaten - viele davon alte Kriegsveteranen - abzuhalten. Für viele war dies Symbol dafür, dass der Präsident sich mehr um sein eigenes Prestige als um den Schutz der Bevölkerung kümmert. Aus Not heraus entstanden zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die Menschen im Kampf gegen das Virus unterstützen und das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein schien sich neu zu entwickeln. Es entstanden neue gesellschaftliche Aktivitäten und Allianzen, die gepaart mit der großen Unzufriedenheit über den Umgang mit der Pandemie, zu einem ungewöhnlichen Wahlkampf führten.

Eine neue Opposition entsteht

Ein entscheidender Faktor für die Proteste bestand jedoch darin, dass es bei der letzten Wahl plötzlich eine echte Alternative zu Lukaschenko gab. Während Wiktar Babaryka, der ehemalige CEO der Belgazprombank, oder Waleryj Zapkala, der frühere belarussische Botschafter in den USA von der Wahlkommission nicht als Kandidaten zugelassen wurden, gelang es Swjatlana Zichanouskaja, politischen Aufwind zu bekommen. Nachdem ihr Mann - der beliebte Blogger Sjarhej Zichanouski im Mai verhaftet und als Präsidentschaftskandidat abgelehnt wurde - führte sie die Wahlkampagne fort. Ihr gelang es, Menschen im ganzen Land zu mobilisieren, so dass sich die Bevölkerung zunehmend an Wahlkampfveranstaltungen beteiligte. Zudem teilten viele Menschen ihren politischen Unmut in sozialen Medien und stimmten letztlich auch für Zichanouskaja bei der Präsidentschaftswahl. Insbesondere aufgrund der großen Unterstützung ihrer Kandidatur von Seiten der Bevölkerung wurde der Wahlbetrug umso deutlicher.

Pro-Oppositions-Demonstranten auf den Straßen von Minsk.
Foto: EPA/TATYANA ZENKOVICH

Kommt die Farbrevolution in Belarus?

Die Entwicklungen in Belarus ähneln den Farbrevolutionen in anderen postsowjetischen Staaten, bei denen große Proteste erfolgreich ein Ende des alten autoritären Regimes erwirkten. Bisher hat sich die ehemalige rot-weiße Flagge, die Lukaschenko 1995 verbannte, als Symbol der Proteste manifestiert. Im Land selbst werden oft die Begriffe „Flip-Flop“- oder „Kakerlaken“-Revolution verwendet. Dies geht auf ein Interview mit einer wütenden Frau zurück, das auf dem YouTube-Kanal von Zichanouski erschienen ist, bei dem sie Lukaschenko mit einer Kakerlake verglich, die man nur los wird, wenn man sie mit einem Flip-Flop erschlägt.

Obwohl der Ausgang der Proteste noch nicht abzusehen ist und Lukaschenko sein Amt nicht kampflos aufgeben wird, sprechen verschiedene Gründe für einen Regimewandel:

Seit dem Beginn der Proteste wurden zunehmend Risse im alten Regime sichtbar, denn die zunehmend kritischen Stimmen von (ehemaligen) Ministern, Diplomaten oder Journalisten des staatlichen Fernsehens zeigen, wie verwundbar das Regime ist.

Zudem ist die Präsenz einer glaubwürdigen Opposition, ausgelöst durch die Kandidatur von Zichanouskaja, ein Novum für Belarus. Ihr gelang es über soziale Medien einen neuen und nie dagewesenen Pluralismus zu schaffen.

Die Proteste verliefen bisher größtenteils sehr friedlich ab und wurden dennoch von staatlicher Seite mit Gewalt beantwortet. Auch wenn die Anzahl der Todesopfer bisher relativ gering ist, vor allem im Vergleich zur späten Phase der Maidanproteste in der Ukraine 2014, so beschädigt dies doch die Glaubwürdigkeit und Legitimität von Lukaschenko. Die tragischen Ereignisse wurden auf Video aufgezeichnet und halten die Brutalität des Regimes fest, Bildmaterial, das sich rasch verbreitete und für Entsetzen sorgte.

Der größte Faktor, der für einen Regimewechsel spricht, ist die andauernde massive Mobilisierung der Bevölkerung. Dies hält das Gelegenheitsfenster für einen Regimewechsel weiter offen, bestärkt die Opposition in ihrem Vorgehen gegen den Präsidenten und führte zu einem enormen Anstieg an politischer Partizipation. In der Politikwissenschaft spricht man von einer Zunahme an politischer Wirksamkeit (political efficacy), einem zunehmenden Glauben der Bevölkerung, dass ihr eigenen Handeln Politik tatsächlich beeinflussen kann. Neu ist zudem, dass sich die Proteste nicht mehr nur auf die Hauptstadt beschränken, sondern auch andere Städte, selbst Dörfer erfassen.

International ist das Regime von Lukaschenko weitgehend isoliert. Die EU erkennt das Ergebnisse der Wahl nicht an und plant Sanktionen, Russland verhält sich eher zögerlich und die USA oder China rufen dazu auf, den Willen der belarussischen Bevölkerung zu respektieren.

Belarus Zukunft bleibt ungewiss

Obwohl die Proteste ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht haben, ist die Zukunft des Landes weiter unklar. Der Präsident bleibt weiterhin die mächtigste Person im Land, zeigte sich zuletzt gewaltbereit und ließ kürzlich verlauten, dass er das Amt nicht lebend verlassen wird. Zudem bleibt abzuwarten, ob Russland weiterhin in der Rolle eines Beobachters bleiben wird oder sich dazu entschließt, Lukaschenko aktiv zu unterstützen.

Sollte der Regimewechsel tatsächlich geschehen, möchte Zichanouskaja wie zuletzt betont, nicht die neue Präsidentin werden. Ihr Ziel sind die Freilassung ihres Mannes sowie freie und faire Wahlen, die den politischen Willen und Anliegen der weißrussischen Bevölkerung gerecht werden. (Sofie Bedford, Tobias Spöri, 25.8.2020)

Sofie Bedford ist Politikwissenschafterin am Institut für Russische und Eurasische Studien (IRES) an der Universität Uppsala und Gastwissenschaftlerin an der Universität Wien.

Tobias Spöri forscht und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zu Protesten und Zentral- und Osteuropa.

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