Die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker entwickelte zu zu Johann Sebastian Bachs "Goldberg Variationen" ihr erstes Solo seit 1980.

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Es war ein langer und schwieriger Weg, sagt Christophe Slagmuylder, aber das Ziel ist nah. Am Mittwoch starten die Wiener Festwochen wegen des Coronavirus um drei Monate verspätet und statt mit den ursprünglich geplanten 50 Arbeiten in einer verkleinerten Version von nur 13 Produktionen. Reframed weist als Namenszusatz auf die Einschränkungen durch die Pandemie hin, Pragmatik hat das auf einén Monat anberaumte Programm mitverfasst.

Denn so sehr der Intendant die Bedeutung internationaler Werke als Fenster zur Welt betont, können Künstler aus Japan, Chile oder Brasilien wegen Reisebeschränkungen nicht nach Wien kommen und durften vom Festival beauftragte Produktionen in ihrer Heimat wegen herrschender Sicherheitsregelen nicht geprobt werden.

Warten auf die Verordnung

Statt vieler Uraufführungen wird es nur eine der belgischen Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker geben. Dazu kommen als Gastspiele etwa das Science-Fiction-Theater von Susanne Kennedy, ein Abend von Boris Nikitin über den Tod seines Vaters und das eigene Coming-out, eine Ökodystopie von Philippe Quesne und ein Stück von Marlene Monteiro Freitas über das Böse. Jeden Abend wird nur ein Stück zu sehen sein. "Man kann so vielleicht in der Reflexion der einzelnen Werke tiefer gehen", sagt Slagmuylder.

Es gibt für das Stagione-Prinzip konkrete Gründe: Wegen der Aerosolbelastung wurden alle Veranstaltungen in die modernen Hallen E und G im Museumsquartier verlegt, wo die Luft alle zehn Minuten völlig getauscht werden kann.

Um Abstandsregeln zu genügen, wird es nur Einzel- und Zweiersitze geben. Hinter den Kulissen sollen ein 111-seitiges Präventionskonzept und regelmäßige Tests der Künstler und des Teams den sicheren Ablauf gewährleisten. Was aber geschieht, wenn die Corona-Ampel für Wien auf Orange oder Rot springt, weiß keiner. Man wartet noch auf die Regierungsverordnung.

Ein Luxus ist keine Lösung

Ein Glück im Unglück ist jedenfalls, dass Anne Teresa de Keersmaeker nach ihrem personalintensiven Bach-Abend voriges Jahr ihre neue Choreografie aller 30 Goldberg-Variationen stets als Solo geplant hatte. So konnte sie daran allein mit einem Techniker und online mit dem Pianisten Pavel Kolesnikov arbeiten. Ein Luxus für die Compagniechefin, aber keine Lösung.

Dementsprechend besorgt blickt die 60-Jährige in die Zukunft, sieht die Livekünste als auf ein großes Publikum angewiesenes "Businessmodell" an einem Knackpunkt. Wenn aus Ticketerlösen finanzierte Ensembles auf unabsehbare Zeit nur im kleinen Rahmen auftreten können: "Wie sollen wir überleben?" Es brauche Entscheidungen der Politik, um zu vermeiden, dass Kunst angesichts reduzierter Sitzplätze zum Elitenprogramm werde. Gemeinsame Reflexionen und Visionen reichten zurück bis zu der Zeit, als die Menschen ums Feuer saßen.

Ideelle Verlustzone

Zumindest um die finanziellen Belange der stark subventionierten Festwochen muss sich Slagmuylder weniger Sorgen machen. Alle Künstler, denen abgesagt werden musste, konnte er entschädigen. Die Verluste treffen ihn eher auf ideeller Ebene, wenn Kontakte rund um die Aufführungen heuer nur bedingt möglich sein werden. Ihm ist aber auch an der Bühne als Ort gelegen, an dem geschehen kann, was sonst nirgendwo passieren kann. Die Bedeutung der Kunst für die Gesellschaft sei im Zuge der Krise öfter infrage gestellt worden, dem müsse man antworten. Immerhin zogen die Ticketkäufe zuletzt an.

Ist es frustrierend, dass er nach dem Einspringerprogramm 2019 wieder nicht aus dem Vollen schöpfen kann. Ja, aber das sei sein persönliches Problem. Plant er angesichts der Lage die nächste Ausgabe gleich kleiner? "Wir versuchen, ein Manifest zu schreiben, was wir aus dieser Krise lernen können und wie das unsere Art zu arbeiten verändern kann." Einige Projekte hat Slagmuylder zwar auf 2021 verschoben, vieles will er aber neu denken.

So könnten Programme kleiner ausfallen oder internationale Künstler stärker vor Ort mit der lokalen Szene arbeiten: denn Reiseverbote seien das größte Fragezeichen. Das merkt auch der Wiener Komponist Bernhard Gander. Der Heavy-Metal-Drummer, der in Oozing Earth mit dem Ensemble Modern auftreten sollte, darf wegen Corona nicht einreisen. Gander hat aber wuchtigen Ersatz gefunden. (Michael Wurmitzer, 24.8.2020)