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Ich hatte mich getäuscht, fühlte mich dann aber keineswegs enttäuscht: So könnte ich die Lektüre von Danny Tobeys "Das Gottesspiel" zusammenfassen. Ein Experte für Künstliche Intelligenz als Autor und ein Klappentext, der von einem außer Kontrolle geratenden Virtual-Reality-Game spricht – da dachte ich unwillkürlich, dass mich ein Abenteuer im Stil von Tad Williams' "Otherland" und Konsorten erwarten würde. Was ich stattdessen bekam, erinnerte mich schon eher an Stephen Kings "Needful Things" und erwies sich als eine bis zum Schluss packende Studie in teenage angst.

Die zentralen Protagonisten des Romans rekrutieren sich aus dem Abschlussjahrgang einer US-amerikanischen High School. Hauptfigur Charlie und seine Freunde Peter, Vanhi, Kenny und Alex bilden eine Clique, die sich selbst "die Vindicators" nennt. Sie sind keine übertriebenen Nerds, aber definitiv computeraffin. Neben der Schule verbringen sie ihre Zeit mit Videospielen und Programmieren, gelegentlich wird auch mal ein Streich mit mehr oder weniger gesellschaftskritischer Note ausgeheckt. Sie wissen, dass sie nicht an der Spitze der Hierarchie stehen – aber traditionelle Hierarchien und Privilegien kommen ohnehin zusehends ins Wanken, wie der Roman noch zeigen wird.

Die Verführung

Eines Tages stellt Peter den anderen ein neues Augmented-Reality-Spiel vor, hinter dem angeblich eine Künstliche Intelligenz steckt. Als Arbeitshypothese wird uns zu Beginn des Romans folgendes Gerücht angeboten: Es sei ein Programm geschrieben worden, das mit allen religiösen Texten der Menschheitsgeschichte samt Begleitinformationen gefüttert wurde. Daraus sei eine KI entstanden, die als lebendige Repräsentation der Gesamtsumme menschlicher Vorstellungen vom Göttlichen zu einem Meta-Gott geworden ist und nun eine selbstständige Existenz im Netz führt.

Dass diese "Gottheit" zur Interaktion mit Menschen just ein Spiel wählt, könnte einem bereits zu denken geben – gilt statt Gott nicht eher der Teufel als Spieler? Die einleitenden Worte "Wenn du gewinnst, werden all deine Träume wahr. Wenn du verlierst, bist du tot" klingen auch nicht gerade anheimelnd. Unverblümt bekennt die KI sogar, dass ihr das Töten Spaß mache. Trotzdem lassen sich die Vindicators auf das "Gottesspiel" ein.

Und so beginnt es

Was darauf folgt, erinnert zum einen an die beklemmende TV-Serie "Chosen" und zum anderen eben an "Needful Things". Die Spieler werden durch den Realraum geschickt, um Botengänge zu erledigen oder anderen Menschen Streiche zu spielen – erst harmlose, dann immer drastischere. Dafür gibt es Gutpunkte, und was man für die erwerben kann, kann sich durchaus sehen lassen: Wie wär's zum Beispiel mit einer App, die es einem ermöglicht, sämtliche Mobilkommunikation seiner Mitmenschen mitzuverfolgen? Hier werden tatsächlich Träume wahr (auch böse). Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass "Gott" hier ganz genau wie Leland Gaunt, das diabolische Mastermind in Stephen Kings Roman, alle Beteiligten Schritt für Schritt kurzschließt, bis das ganze Netzwerk am Ende durchbrennt.

Die Sanktionen, die "Gottes" System von Belohnung und Strafe vorsieht, entsprechen ganz dem gewohnten Amoklaufende-KI-Szenario. Die Künstliche Intelligenz sieht alles, kann sich in sämtliche Geräte vom Bargeldautomaten bis zum Gasventil hacken und nach Belieben Menschen fernsteuern, indem sie deren Mobilkommunikation manipuliert. Kurz gesagt: Paranoia total! Früher oder später werden sich Charlie & Co entscheiden müssen, ob sie das Spiel weiterspielen oder sich "Gott" entgegenstellen wollen.

Menschliche Schwächen

Die KI nutzt auch knallhart die persönlichen Schwächen ihrer Spieler (oder Spielfiguren) aus – und von denen hat wirklich jeder eine Last zu tragen. Alex hält sich für einen Freak und befindet sich schon länger in einer depressiven Abwärtsspirale. Vanhi befürchtet, in Harvard abgelehnt zu werden, weil sie eine Testnote gefälscht hat. Charlie hat seine Mutter verloren und seitdem in der Schule stark nachgelassen. Und selbst Peter, hinter dessen Teflon-Fassade mitunter der pure Nihilismus erkennbar wird, ist im Grunde seines Wesens zutiefst verunsichert.

Unsicherheit ist überhaupt das entscheidende Stichwort, denn die hat auch die Nebenfiguren erfasst. Sie – etwa Antagonist Tim (der klischeehaft mobbende Footballstar der High School) oder die diversen Erwachsenen – müssen sich der Erkenntnis stellen, dass die alten Formeln, mit denen man einst zum Erfolg kam, nicht mehr funktionieren. Neuen Kräften wie Charlie oder Vanhi, die früher als typische Außenseiter gegolten hätten, könnte die Zukunft gehören; doch die prallen noch an den Resten der alten Hierarchien ab. Diese brisante Mischung aus Enttäuschung, Unzufriedenheit, Abstiegsangst und Orientierungslosigkeit ist das Unterfutter, das Tobeys Roman über die bloße Spannung hinaus interessant macht. Das Gottesspiel gedeiht auf diesem Szenario, spiegelt es wider und treibt es zugleich auf die Spitze.

Was tun, wenn man ein schon älterer Leser ist?

Trotz jugendlicher Protagonisten ist "Das Gottesspiel" eindeutig kein YA-Roman. Wer dennoch aufgrund seines Alters Schwierigkeiten hat, sich in Teenager hineinzuversetzen, dem steht hier aber auch eine alternative Perspektive offen. Denn Tobeys Roman zeigt auch eine Kluft zwischen den Generationen auf. Geradezu symbolhaft ist die Passage, in der die Direktorin der Schule nach einem "Streich" eine mahnende Ansprache in der Aula hält – und keiner der Lehrer bemerkt, dass alle Schüler nur auf ihre Handys starren, wo sich schon der nächste "Streich" manifestiert. Die Generationen wirken wie verschiedene Subkulturen, die ihre jeweiligen Codes nicht verstehen. Einmal stöhnt Charlies Vertrauenslehrer resigniert: "Aber wenn ich überhaupt noch an irgendetwas glaube – und ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch kann –, dann an die Macht der Kinder, mich zu enttäuschen."

Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass "Das Gottesspiel" eine wunderbar stimmige Verschwörungstheorie für die finstersten Schattenseiten des Teenagerlebens anbietet. Vandalismus, Cybermobbing, Drogen, Diebstähle und Gewalttaten: All das lässt sich hier auf eine einzige Quelle und einen einzigen Masterplan zurückführen. Wenn's doch im echten Leben auch so einfach wäre!