Es ist die Frage, die man sich fast immer zu spät stellt: "Was zur Hölle mache ich eigentlich hier?" Vielleicht hat sich Thiago Alcântara do Nascimento die Frage ganz kurz gestellt, als er vor sieben Jahren sein erstes Spiel vor Heimpublikum für den FC Bayern bestritt. Es ist Mittwoch, der 24. Juli 2013, 18.30 Uhr: In der Münchner Allianz-Arena hebt der für zwei Stunden legendäre Uli-Hoeneß-Cup an. Volksfeststimmung, ein paar Lederhosen, Blasmusik ohne Wettkampfcharakter, rötötö.

Das Champions-League-Finale dürfte das letzte Spiel von Thiago für die Bayern gewesen sein.
Foto: SVEN SIMON/ Frank Hoermann/ Pool

Zum 60. Geburtstag schenkte der FC Bayern seinem damaligen Präsidenten und den Münchner Fans, aber vor allem dem damaligen Präsidenten, ein Freundschaftsspiel zwischen den Bayern und dem FC Barcelona. Die Eintrittskarten sind mit dem Konterfei von Hoeneß bedruckt, der Pokal ist im Verhältnis zum Anlass schlicht, die Einnahmen gingen an wohltätige Zwecke, wurde betont. Der Finanzskandal, der Hoeneß später eine Haftstrafe einbrachte, ist an diesem Sommerabend freilich kein Thema.

An der Seitenlinie für die Bayern steht Pep Guardiola, im Mittelfeld spielt der 22-jährige Neuzugang aus Spanien, den Guardiola vor der Saison so eindrücklich gefordert hatte: "Thiago oder nix." Schon nach den ersten Ballkontakten des U-21-Europameisters könnten sich einige der 71.137 Zuschauer gefragt haben: "Was zur Hölle macht der eigentlich hier?"

Katzenauge

Thiagos Spielwiese ist das Mittelfeld, er ist Stratege, Taktgeber, Regisseur. Und bewahrt sich dabei die Eleganz und Leichtigkeit eines Badkickers, der mit seinen Mitspielern schon den ganzen Tag im Freibad spielen muss, weil der Sieger eben auf dem Platz bleibt. Und sich zwischen zwei Traumpässen und einem Ferserlgoal ein Eis holt. Es sind flüssige Bewegungen, mit denen der 174 Zentimeter große, spanisch-brasilianische Doppelstaatsbürger das Spielgerät, den Ball, behandelt.

Während seiner sieben Jahre beim FC Bayern nennen sie ihn oft Zauberer. Weil ihm der Ball am Fuß pickt, weil die Annahme, Drehung und Verarbeitung so perfekt funktioniert, weil er Geschwindigkeit scheinbar ohne Mühe auf den Platz bringt und weil er dieses magische Auge für die Mitspieler hat – ein eingebautes Radar. Kurz: Thiago ist der Schüler, den man im Turnunterricht immer gleich am Anfang wählt. Ohne nachzudenken.

Sieben Jahre nachdem die Bayern ihn gewählt und 22 Millionen Euro Ablöse an den FC Barcelona überwiesen haben, steht Thiago mit weit aufgerissenen Augen auf der Tribüne des Estádio da Luz in Lissabon. Es sind die letzten Minuten im Champions-League-Finale, die Münchner führen 1:0 gegen Paris Saint-Germain, Thiago wurde in der 86. Minute für den Franzosen Corentin Tolisso ausgewechselt.

Jetzt steht er da, die Hände verkrampfen an einer Werbebande, das Gesicht ist vor Anspannung wie eingefroren, er wirkt wie aus Blei gegossen. Hier und da kommen energische Anfeuerungen für seine Mitspieler. Seine Körpersprache schreit: "Zur Hölle, ich bin noch hier!" Die Bayern gewinnen die Champions League, es ist der zwölfte Titel für Thiago im Süden Deutschlands: Siebenmal gewinnt er mit ihnen die Bundesliga, holt vier Pokalsiege. Und die Champions League. Es ist mit ziemlicher Sicherheit Thiagos letzter Auftritt für die Münchner.

Eulenschrei

Im Juni wurde bekannt, dass der Spanier eine vorzeitige Vertragsverlängerung bei den Bayern abgelehnt hatte. Der 29-Jährige wäre noch bis 2021 an die Münchner gebunden, soll aber noch einmal ein Abenteuer, also einen anderen europäischen Großklub suchen. Das Kicken lernte der Sohn des ehemaligen brasilianischen Profis Mazinho beim FC Barcelona. Sein Bruder Rafinha steht noch immer bei den Katalanen unter Vertrag, sein Cousin Rodrigo ist Mittelstürmer bei Valencia. Der FC Liverpool bekundete jedenfalls Interesse an Thiago.

Seither spielt sich das übliche Transfergeplänkel ab: Jürgen Klopp findet Thiago offenbar cool, er sei aber "Spieler des FC Bayern München". Nach dem Triumph in Lissabon scherzte der siegreiche Trainer Hansi Flick: "Er bleibt bei uns." Nach dem Einfahren des wichtigsten europäischen Klubtitels lässt es sich aber auch leicht scherzen.

Dabei wurde der Zauberer in seinen sieben Jahren in München oft zum Hütchenspieler degradiert. Seine Spielweise machte ihn angreifbar. "Zu lässig, zu ballverliebt, zu wenig mannschaftsdienlich, zu verschnörkelt, defensiv faul", war immer wieder das Urteil, wenn es bei den Bayern – selten aber doch – einmal nicht lief. Lothar Matthäus sagte über den wohl anstehenden Wechsel des Spaniers: "Verkraftbar. In großen Spielen habe ich ihn nicht so gesehen, wie ich ihn gerne gesehen hätte."

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Thiago 2012 im Trikot des FC Barcelona mit einem anderen Fußballer.
Foto: dapd/Armangue

Was verschwunden, komm herbei!

Wenn den Magistern das Latein ausgeht, betritt der Magier die Bühne, sagt man. Thiagos Erfolg liegt neben der Show fast im Verborgenen, im doppelten Boden des oberflächlichen, überanalysierten Spitzenfußballs. Zweikampffaul und defensiv uninteressiert? Das deutsche Fußballmagazin "Kicker" sah den Spanier basierend auf Daten der Fußballdatenbank "Opta" in einer Verwandlung vom Schöngeist zum Zweikämpfer. Ein Narrativ, das gefällig klingt. Nur, dass Thiago immer schon defensiv aktiv und wertvoll war, auch als offensiver Mittelfeldspieler hatte er in seiner Zeit bei den Bayern nie weniger als acht Defensivaktionen pro 90 Minuten.

Und zu wenige Beteiligungen an entscheidenden Szenen? Laut Opta spielt Thiago vor allem den vorletzten Pass. Achtmal leitete er in der vergangenen Spielzeit (Stand April) einen letzten Pass ein. Das ist der beste Wert eines Bayern bei sogenannten Hockey-Assists. Unter dem Strich der deutlichen Sichtbarkeit stehen in 235 Partien für die Münchner 31 Tore und 37 Assists auf dem Konto. Das Kaninchen bleibt eben manchmal im Hut.

Wenn Thiago sein Zauberland der vergangenen sieben Jahre verlässt, sollte man dem Spanier in München nicht nur eine Träne nachweinen. Vordergründig ist Thiago eine Show, wenn er sich mit seiner Körperhaltung über den Platz, durch die Reihen der Gegenspieler windet, wie ein Storch, den man auf einen Cityflitzer gebunden hat. Darüber hinaus ist Thiago aber nicht nur erfolgreich, sondern sorgt auch mit seiner Art, Fußball zu spielen, für Erfolg. Und wenn sich der Vorhang einmal hinter ihm schließt, wird der Zauber noch länger wirken. (Andreas Hagenauer, 26.8.2020)