Das Nancy Grace Roman Space Telescope soll Planeten aufspüren, die einsam durch den interstellaren Raum vagabundieren,
Illustration: NASA's Goddard Space Flight Center

Mit der Entdeckung der ersten Exoplaneten in den 1990er Jahren konnte die Wissenschaft endlich bestätigen, was in der Science Fiction schon jahrzehntelang als Selbstverständlichkeit gegolten hatte: nämlich dass unser Sonnensystem keine Besonderheit ist und dass auch andere Sterne ihre Planetenfamilien um sich geschart haben. Und zwar annähernd alle, wie die große Zahl an Entdeckungen nahelegt, die seitdem gelangen. Heute wird laut dem Goddard Space Flight Center der NASA daher bereits davon ausgegangen, dass die Zahl der Planeten in der Milchstraße die der Sterne übertrifft. Fakt und Fiktion haben gleichgezogen.

In einem anderen Punkt liefert hingegen die Wissenschaft die kühneren Visionen. Es müssen nämlich keineswegs alle Planeten feinsäuberlich um Sterne kreisen, wie man sich das gemeinhin so vorstellt. Sie können auch einsam durch die Leere des interstellaren Raums ziehen. Natürlich sind solche Irrläufer auch in der Science Fiction schon aufgetaucht – aber dort sind sie nie über die Rolle vereinzelter Sonderfälle hinausgekommen. Da könnte die Realität viel spektakulärer aussehen.

Astronomische Zahl von Einzelgängern

Eine Reihe astronomischer Studien in jüngerer Vergangenheit hat die Vermutung nahegelegt, dass solche "Rogue Planets" (der englische Fachausdruck klingt einen Tick cooler als die bisherigen deutschen Angebote "Einzelgänger-Planeten" oder "vagabundierende Planeten") ein extrem verbreitetes Phänomen sein könnten – fast schon der Normalfall. Auch sie könnten die Zahl der Sterne in der Milchstraße übertreffen, die immerhin mit 250 bis 500 Milliarden veranschlagt wird.

Völlig losgelöst: Fernab von jedem Stern zieht ein Einzelgänger-Planet seine Bahn.
NASA Video

Bisherige Schätzungen der Zahl vagabundierender Planeten gehen von einigen Dutzend Milliarden bis in den Billionen-Bereich. Dass sie so weit auseinanderklaffen, liegt daran, dass man bislang nur vereinzelte Hinweise auf die Existenz solcher Irrläufer gefunden hat, aus denen sich daher kaum eine Gesamtzahl hochrechnen lässt. Außerdem gibt es unterschiedliche Hypothesen darüber, wie sich ein solcher Planet bildet, und auch das hätte Auswirkungen auf die Häufigkeit.

Die gängigere Hypothese besagt, dass sich solche Welten wie alle anderen auch in der protoplanetaren Scheibe um einen neuen Stern bilden. In der chaotischen Anfangszeit eines solchen Sternsystems hat sich noch kein stabiles Gefüge eingespielt. Orbits überschneiden sich, die einzelnen Himmelskörper zerren gravitativ aneinander – und manchmal, so die Grundidee, kann dieses Wechselspiel einen Planeten ganz aus dem System hinausschleudern. Die andere Hypothese geht davon aus, dass es auch im interstellaren Raum zu lokalen Ballungen von Gas und Staub kommen kann – nicht massereich genug, dass daraus ein Stern entstünde, aber genug für einen Planeten. Eine solche Welt hätte nie einen Mutterstern gehabt.

Ein neues Teleskop soll Antworten liefern

Um die Bandbreite der Spekulationen einzuschränken, braucht es bessere Daten, als bodengestützte Teleskope bisher liefern konnten. Abhilfe soll hier das Nancy Grace Roman Space Telescope bringen, ein neues Infrarot-Weltraumteleskop, dessen Start für 2025 geplant ist. Benannt ist es nach der 2018 verstorbenen Nancy Roman, die in den 60er- und 70er-Jahren Chefastronomin der NASA war. Aus seinem 188.000 bis über 800.000 Kilometer hohen Orbit soll das Teleskop einen Streifen des Himmels von hier bis zum Milchstraßenzentrum auf Exoplaneten durchforsten. Herkömmliche, die um Sterne kreisen – mit einem speziellen Trick aber auch vagabundierende.

Solche Irrläufer lassen sich nur über den sogenannten Graviationslinseneffekt aufspüren. Jede Masse krümmt den Raum und damit auch den Weg des Lichts, das diesen Raum durchquert. Es wird damit gebündelt wie in einem Vergrößerungsglas. In der Astronomie wird dieser Effekt vor allem dafür genutzt, extrem weit entfernte Objekte zu studieren, deren Licht durch nähergelegene Schwarze Löcher oder Galaxien verzerrt wird. Aber auch vergleichsweise winzige Massen wie Planeten rufen den Effekt hervor, in dem Fall spricht man von Microlensing.

So wird ein Planet zur Linse.
NASA Video

"Roman", wie Samson Johnson von der Ohio State University das künftige Weltraumteleskop nennt, wird sich diesen Mikrolinseneffekt zunutze machen. Johnson ist der Hauptautor einer neuen Studie im "Astronomical Journal", der zufolge das neue Teleskop zu zehnmal genaueren Schätzungen der Zahl vagabundierender Planeten führen wird als die bisherigen.

Geduldsspiel

"Roman" wird denselben Himmelsabschnitt über Monate hinweg unter Beobachtung halten, denn gefragt sind vor allem Geduld und Glück. Ein potenzieller Irrläufer muss sich auf seiner Bahn von uns aus gesehen vor den Stern schieben, damit der Linseneffekt zustande kommt und kurzfristig zu einer messbaren Verstärkung des Sternlichts führt. Das bedeutet jeweils ein Zeitfenster von nur wenigen Tagen oder gar Stunden, wie Matthew Penny von der Louisiana State University erklärt. Danach ist es wieder für Millionen Jahre geschlossen.

Normalerweise interessieren Astronomen jene fernen Objekte, deren Licht von einer Gravitationslinse verzerrt wird. Hier ist umgekehrt und das verzerrende Objekt selbst steht im Fokus. Theoretisch müsste das Nancy Grace Roman Space Telescope laut Johnson sogar Planeten identifizieren können, die so klein sind wie der Mars. Aus der Zahl der so gemachten Entdeckungen soll sich schließlich hochrechnen lassen, wie dicht die Population herumirrender Planeten in der Milchstraße tatsächlich ist.

Und ausnahmsweise ist diese spezielle Form der Exoplanetensuche nicht mit jener Frage verbunden, die ansonsten im Hintergrund stets mitschwingt: nämlich ob es dort auch Leben gibt. Die Irrläufer wären lichtlose, extrem kalte Eiswelten und damit unwahrscheinliche Kandidaten für Leben, sagt Johnson – erst recht für solches, das detektierbare Spuren von Aktivität an der Oberfläche hinterließe. Dafür sind neue Erkenntnisse über die Planetenentstehung zu erwarten. Und wir hätten schlicht und einfach ein besseres Bild davon, wie es in der Milchstraße tatsächlich aussieht.

Auch von solchen Objekten dürfte es noch eine große Menge geben, die bislang unsichtbar blieben: Braune Zwerge.
Illustration: NOIRLab/NSF/AURA/P. Marenfeld Acknowledgement: William Pendrill

Eine andere Studie, die mit einer völlig anderen Methode vorging, hat zeitgleich dazu ebenfalls interessante Gesichtspunkte geliefert. Diese fokussierte auf die nächstgrößere Kategorie von Himmelskörpern, nämlich Braune Zwerge. Solche Objekte sind nicht mehr ganz Planeten, aber auch noch nicht ganz Sterne: Mit etwa 13 bis 75 Jupitermassen bringen sie in ihrem Inneren bereits Deuteriumfusion zustande, aber noch keine Wasserstofffusion, wie es für einen Stern typisch wäre. Sie sind darum vergleichsweise kühl und lichtschwach und daher auch nur mit Mühe zu entdecken.

Mit kräftiger Unterstützung von Amateurastronomen hat die National Science Foundation der USA nun ihren Katalog der Braunen Zwerge in unserem "Hintergarten" kräftig erweitert. Im Rahmen des Citizen-Science-Projekts "Backyard Worlds: Planet 9" durchforstet ein Netzwerk von über 100.000 Freiwilligen Archivdaten verschiedener Teleskope auf Anzeichen für noch nicht katalogisierte Himmelskörper. Etwa 1.500 Braune Zwerge konnten so schon identifiziert werden. Eine Hundertschaft von Neuentdeckungen wurde nun für eine Studie zusammengefasst, die demnächst im "Astrophysical Journal" erscheinen wird.

Am spannendsten sind für Astronomen jene Exemplare, die zu den kühlsten jemals entdeckten Braunen Zwergen gehören – kühl genug, dass ihre Atmosphären Wolken aus Wasserdampf enthalten könnten. Es wären Welten, die größer sind als der Jupiter, aber Temperaturen haben, die mit der Erde vergleichbar sind. Und all diese Objekte gehören mit Entfernungen von nur 23 bis 60 Lichtjahren zu unserer unmittelbaren kosmischen Nachbarschaft. Das Fazit auch dieser Studie: Im vermeintlichen Leerraum zwischen den Sternen wimmelt es nur so vor Welten, die sich uns erst nach und nach enthüllen. (jdo, 30.8.2020)