Raymond Neutra ist groß, schlank und ganz in Schwarz gekleidet. Seine grauen Haare sind etwas länger, und unter seinem Bart versteckt sich ein fröhliches Lachen. Raymond Neutra strahlt eine gewisse Autorität aus, und wüsste man nicht, dass er Arzt ist, könnte man ihn glatt für einen Priester halten. Bis zu seiner Pensionierung war der Epidemiologe Leiter der Abteilung für Umweltkrankheiten des California Department of Public Health. Wir trafen ihn, um über seinen berühmten Vater Richard Neutra zu sprechen, einen der erfolgreichsten aus Österreich stammenden Architekten.

Für das "Oyler House" in Lone Pine, Kalifornien, hatte der in Wien geborene Richard Neutra (1892 bis 1970) eine ganz besondere Schwäche.
Foto: David Schreyer

STANDARD: Sie wuchsen hier in Los Angeles in dem berühmten Van-der-Leeuw-Haus auf, das Ihr Vater im Jahr 1932 entwarf, ein Paradebeispiel der klassischen Moderne. Was sind Ihre Erinnerungen an das Haus, an das Leben darin?

Raymond Neutra: Die sogenannte VDL-Residence war insofern ungewöhnlich, weil es drei Haushalte beherbergte und obendrein ein kleines Architekturbüro. Dadurch unterschied es sich wesentlich von den meisten Häusern der damaligen Mittelschicht. In der Atelierwohnung wohnte eine ältere Dame, im Obergeschoß eine Familie mit kleinen Kindern und im Erdgeschoß unsere fünfköpfige Familie. Die drei Haushalte waren streng voneinander getrennt, jeder hatte eine Küche, war also autark. Das Haus war so konzipiert, dass alle Familien ihre eigene Privatsphäre hatten – und es verfügte über zwölf Ausgänge.

STANDARD: Erzählen Sie bitte von der Atmosphäre, die in dem Haus herrschte?

Neutra: Ich hatte sehr beschäftigte Eltern, aber für mich war es toll, ich war wie eine Fliege an der Wand. Mir wurde nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Mit uns wohnte auch unsere Haushälterin. Ich war es gewohnt, dass viele verschiedene Menschen um uns herum waren. Als kleiner Bub sah ich die verschiedensten Leute, die im Büro meines Vaters arbeiteten. Er stand jeden Tag um vier Uhr früh auf, um an Zeichnungen zu arbeiten, die dann seine Assistenten, die um acht Uhr kamen, weiter ausführten. In seinem Büro entstanden 300 Projekte. Als ich ins Internat kam, zog Erich Schneider Wessling, der bei meinem Vater hospitierte, in mein Zimmer ein.

Die berühmte "Van der Leeuw Residence" in L.A.
Foto: David Schreyer

STANDARD: Er wurde ein bekannter Architekt ...

Neutra: Auch Harwell Harris, Gregory Ain und Joseph Alan Stein begannen bei meinem Vater. Sie waren alle durch seine Arbeit beeinflusst und wurden Pioniere des sozialen Wohnbaus. Sie waren mehr als Architekten, sie waren Sozialaktivisten und Teil der Umweltdesign-Bewegung.

STANDARD: Das Haus wurde nach dem niederländischen Mäzen Van der Leeuw benannt. Was hatte er mit dem Haus zu tun?

Neutra: Mein Vater lernte ihn kennen, als er 1930 in Rotterdam einen Vortrag hielt. Sie teilten die Leidenschaft für Architektur wie für sozialen Wohnbau. Van der Leeuw kannte das von meinem Vater 1927 veröffentliche Buch Wie baut Amerika?. Einige Zeit später reiste er nach Los Angeles, und mein Vater fuhr ihn in seinem alten Chevrolet herum und zeigte ihm die Stadt. Van der Leew sah auch das Haus – ein Arts-and-Crafts-Haus – in dem mein Vater lebte und meinte: "You are an architect. You should build your own house and live in it." Mein Vater sagte, dass es unmöglich sei, einen Kredit zu bekommen, worauf Van der Leeuw sein Scheckbuch zückte, ihn fragte: "How much do you need?" – und ihm einen Scheck von 3000 Dollar überreichte. Das war dann quasi der Grundstein des Hauses.

Das "Miller House" in Palm Springs.
Foto: David Schreyer

STANDARD: Wie groß ist die gesamte Fläche des Hauses?

Neutra: Das Haus hatte 233 Quadratmeter und das 1940 dazu gebaute Gartenhaus 120 Quadratmeter. Es ist mit einfachen Materialien gebaut. Mein Vater war stark von der modernen Architektur von Otto Wagner und Adolf Loos beeinflusst. Was ihn jedoch wirklich beeindruckte, war die japanische Architektur und die Arbeiten von Frank Lloyd Wright. "The explosion of the box", die Verbindung von Natur und Wohnraum, von Innen und Außen. Diese Idee hat er bei dem VDL Haus stark verwirklicht.

STANDARD: 1963 wurde das Haus durch einen Brand zerstört. Wie reagierte Ihr Vater darauf?

Neutra: Er und meine Mutter waren zu dem Zeitpunkt in Europa, ich studierte an der medizinischen Fakultät in Montreal. Zum Glück hatte mein Vater bereits eine Menge seiner Entwürfe und Unterlagen der Universität UCLA geschenkt. Als mein Vater zurückkam, stand er etwas fassungslos vor seinem zerstörten Zuhause. Aber ziemlich bald hatte er nur noch einen Gedanken, nämlich es wieder aufzubauen. So war mein Vater. Er blickte immer in die Zukunft. Dieser Wiederaufbau geschah mit meinem Bruder Dion, der auch Architekt war. Die neue Version ist geräumiger. Die ursprüngliche Version hatte einige funktionelle Merkmale, die aufgegeben werden mussten, aber ein paar neue, darunter der Pool auf dem Dach, wurden hinzugefügt.

Einblick ins "Ohara House" in Los Angeles.
Foto: David Schreyer

STANDARD: Waren Sie viel mit Ihrem Vater unterwegs?

Neutra: Gewöhnlich fuhren mein Vater und ich Samstag zu den Baustellen und sahen nach, was sich dort entwickelte. Ich kam auch oft mit, wenn Julius Shulman (Anm.: berühmter Architekturfotograf, der u. a. auch für Frank Lloyd Wright, John Lautner und Frank Ghery arbeitete) und mein Vater die Gebäude kurz nach ihrer Fertigstellung fotografierten. Meine Aufgabe war es dann, die Möbel der Besitzer aus dem "Rahmen" zu schieben und Neutra-Möbel hineinzustellen. Oder ich musste Äste aus dem Bildausschnitt "rausbiegen".

STANDARD: Was glauben Sie, wie würde Ihr Vater heute bauen?

Neutra: Er war immer der Überzeugung, dass Architektur eine soziale Rolle und Verantwortung trägt. Neue Technologien, Präfabrikationen und billige Baumaterialien sollten diese Architektur allgemein erschwinglich machen und damit leistbaren Wohnraum bringen. Das würde er bestimmt auch heute so sehen. Die Gebäude meines Vaters sind Vorläufer für die heutige nachhaltige Architektur. Insofern trete ich stark für ihre Erhaltung ein.

STANDARD: Sie sind Epidemiologe. Existiert da irgendein Zusammenhang mit der Arbeit Ihres Vaters?

Der Großmeister selbst am Pool seiner "VDL" Residence.
Foto: David Schreyer

Neutra: Meine Eltern hatten beide einen starken Sinn für soziale Gerechtigkeit. Alle Freunde unserer Familie hatten diese Vorstellungen, da alle vom New Deal, also von den Wirtschafts- und Sozialreformen von Präsident Roosevelt, begeistert waren. Man wollte etwas für das Gemeinwohl tun. Mit diesen Werten wuchs ich auf. Mein Vater war sehr an Wissenschaft interessiert. Design sah er eher als Medizin und weniger als bildende Kunst. Er kam aus Wien, aus einem Wien, das von Wittgensteins logischem Denken beeinflusst war.

STANDARD: Ihr Vater wuchs in Wien-Leopoldstadt auf. Was erzählte er von seiner Kindheit und Jugend?

Neutra: Mein Vater war Teil der Avantgarde in Wien. Er hatte eine Menge intellektueller Kontakte. Das Österreich, in dem er aufwuchs, war ein multikultureller Ort und stand unter der Herrschaft von Kaiser Franz Joseph I. Die Eltern meines Vaters waren Einwanderer, die aus Ungarn nach Wien kamen. Er erzählte nicht viel von ihnen. Seine Mutter war 41 Jahre alt, als er geboren wurde, und starb, als er 16 Jahre alt war. Seine Geschwister waren ihm wichtig. Sein älterer Bruder Wilhelm war Psychiater, und der andere, den er sehr liebte, war Ingenieur, seine Schwester Künstlerin.

Seine Brüder spielten mit dem Streichquartett von Schönberg. Er sah Mahler dirigieren und war mit Sigmund Freuds Sohn befreundet. Mein Vater erzählte aber auch von antisemitischen Aufmärschen, die ihn in Angst und Schreck versetzten. Als Sohn einer jüdischen Familie musste er mit solchen Dingen aufwachsen. Interessant ist auch die Geschichte meines Urgroßvaters. Er war Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen. Als er in Ungarn, an der Grenze Rumäniens arbeitete, breitete sich Typhus aus, und er und seine Frau starben beide an dieser Epidemie. Mein Großvater kam also als Waise nach Wien.

STANDARD: Wie viel Wert legte Ihr Vater auf sein eigenes Wohnen? Er lebte ja auch in den 1960er-Jahren eine Zeitlang in Wien.

Neutra: In Wien wurde ihm damals eine Wohnung zur Verfügung gestellt, die nichts Besonderes war. Ihm selbst war es eher egal, wie er wohnte, da er ständig unterwegs war und auch viele Vorträge hielt. Es ging ihm darum, interessante Menschen zu treffen. Mein Vater war ein sehr sparsamer Mensch. Einen neuen Anzug zu kaufen war eine große Sache, die selten vorkam.

STANDARD: Gab es unter den Häusern, die Ihr Vater entwarf, eines, das ihm besonders am Herzen lag?

Richard Neutras Sohn Raymond (Jg. 1939).
Foto: Raymond Neutra

Neutra: Er hatte eine Schwäche für das Oyler-Haus, das er für eine siebenköpfige Mormonen-Familie in Lone Pine in Kalifornien plante. Es waren sehr bescheidene Kunden, und es ist ein sehr bescheidenes Haus, hat aber dennoch etwas Großzügiges und einen unglaublichen Blick hinaus. Es ist ein kleines Juwel.

STANDARD: Wie und wo wohnen Sie selbst?

Neutra: Meine Frau und ich leben in Carmel, Kalifornien, in einem Seniorenheim. Das Gebäude stammt aus den 1960er-Jahren, und die gesamte Einrichtung hat starken Hotelcharakter. Auch vermittelt es einem das Gefühl, in einem japanischen Haus zu leben: überdachte Wege, die von einem Gebäude zum anderen führen, und obendrein prachtvolle Gärten. Mich erinnert das alles stark an die Architektur von Frank Lloyd Wright. Und an jene meines Vaters – und damit auch an ihn. (Cordula Reyer, RONDO, 1.9.2020)