Unter einem die Steilhänge der Ried Sulz, vor einem die ondulierten Hügelkaskaden der Südsteiermark, auf dem Teller Gradwohl pur.

Foto: M. Corti

Manchmal kann es schnell gehen. Nachdem Joachim Gradwohl vor zehn Jahren der Küche des Graben-Meinl Lebewohl gesagt hatte, war das Restaurant mit der fantastischen Aussicht urplötzlich keine begehrenswerte Adresse mehr – von einem Tag auf den anderen. Von dem Schock scheint es sich bis heute nicht erholt zu haben.

Wobei: Der Eindruck gepflegter Angeranztheit könnte auch damit zu tun haben, dass der Eigentümer inzwischen kaum noch im Lande ist und, so raunen die Auskenner, für kommendes Jahr die endgültige Abwicklung des mythischen Kaufhauses verfügt hat. Das wäre dramatisch für den Nimbus Wiens als halbwegs ernst zu nehmendes Phäaken-Platzerl.

Ist aber, siehe auch Demels Tod auf Raten (nach wie vor geschlossen!), eine Entwicklung, die immer unausweichlicher Fahrt aufnimmt. Als des "Fünfers" ultimative Rache an der Republik wäre die Schließung des Meinl am Graben zweifellos effektiv. Aber das nur nebenbei.

Dramatik und Anmut

Gradwohls Odyssee wurde seitdem gut dokumentiert – erst die Shangri-La-Farce mit dem in letzter Sekunde doch nicht eröffneten Luxushotel, dann das Kurzzeit-Engagement zur Wiedereröffnung des Fabios, seitdem exklusive Caterings, halbprivates Auftragskochen. Jetzt, endlich, hat Gradwohl gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Lilli Kollar (aus der Fleischer- und Wirtendynastie Kollar in Deutschlandsberg) die ehemalige Pfarrerskeusche in Sulz an der Weinstraße übernommen. Das mit Geschmack renovierte alte Haus wurde die vergangenen Jahre als Gasthaus geführt, die Lage, direkt an der steil abfallenden Ried Sulz, ist an Dramatik und Anmut kaum zu übertreffen.

Gradwohl kocht entspannt und unprätentiös, die Karte variiert zwischen hochklassiger Wohlfühlküche und nuancierten Gerichten. Dazu der umsichtige Service durch Lili Kollar, eine vergleichsweise knappe, aber klug zusammengestellte Weinkarte, wöchentlich wechselnde Gerichte, vernünftige Preisgestaltung – es ist schwer, sich aktuell einen besseren Platz in der Südsteiermark vorzustellen.

Knusprig und glasig gebratener Saibling mit ein paar Tomaten, Spinat und winzigen Eierschwammerln.
Foto: M. Corti

Gleich zu Beginn ist aber der fantastische Rohschinken von Lilli Kollars Vater nicht zu versäumen, 24 Monate luftgetrocknet, von familieneigenen Schwäbisch-Hällischen: monumentaler Crudo, süß, schmelzig, ein Schwergewicht von exquisiter Sanftheit. Geeiste Karfiolcreme ist dazu der ideale Kontrapunkt: kleschkalt, wie man sie sich in der Schwüle des Augusts wünscht, und doch voll subtiler Zwischentöne und elegant erfrischender Säure – wie flüssige Seide.

Die Vorspeise aus Karotte in allerhand Aggregatszuständen (geschmort, gehobelt, als Creme ...) erweist der Rübe mit Leichtigkeit die Ehre, dazu gibt es Schafsfrischkäse und hochreifen, knackigen Pfirsich – Gradwohl pur.

Ha ha hausgemacht!

Bei den Hauptspeisen sollte man sich ans Geschmorte halten, das hat kaum wer in solcher Finesse drauf wie er. Kalbsgulasch ist so ein Fall, keine Spompanadeln, nur herrlich tiefer, bis in die Poren paprizierter Saft, löffelweiches, saftiges Fleisch – dass bei den Nockerln "hausgemacht" auf der Karte steht, kann aber nur ein Witz sein. What else?

Schweinsbackerln sind einen Hauch fester, steht ihnen perfekt, mit einem Schleier aus hauchdünn geschnittenen, roh marinierten Chioggia-Rüben obendrauf, mit bittersüß geschmorten gelben Rüben an der Seite und einem Saftl, unendlich fein gewebt.

Fisch ist ein anderes Spezialgebiet des Kochs. Knusprig und glasig gebratener Saibling wird mit ein paar Tomaten, Spinat und winzigen Eierschwammerln zu einem Gericht, für das man noch Tage später mit schwachsinnig verklärtem Blick ins Narrenkastl schaut. Gradwohl versteht es, jede Zutat individuell ins Glück, in den Idealzustand zu holen. Schön, dass er wieder da ist! (Severin Corti, RONDO, 28.8.2020)

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