Nicht nur James Bond lebt gefährlich.

Foto: EPA/JOERG CARSTENSEN

Rita hat so ein Gefühl, dass ihre Romanze mit David möglicherweise ihr Leben ruiniert. Etliche Indizien sprechen dafür. Doch das hält sie nicht zurück. Im Gegenteil: Sie findet die Idee "prickelnd", dass es mit ihren 44 Jahren immer noch möglich ist, in ihr Verderben zu rasen.

David, behauptet Rita, ist mittelgroß und mittelschlank. "Auf den ersten Blick würde man ihn an jeder Kreuzung übersehen." – Was er hingegen sein soll: aufmerksam, leidenschaftlich, ungewöhnlich zärtlich und selten greifbar. Meine alte Schulfreundin wird, und das ist das Bedenkliche daran, von Woche zu Woche verrückter nach ihm.

Offiziell verdient dieser David sein Geld als Handelsvertreter. Unklar ist, welche Aktivitäten damit konkret gemeint sind. Er sei mal hier, mal da. Die Angaben über seine Geschäftsreisen bleiben vage. Manchmal stellt sich im Nachhinein heraus, dass er – entgegen seiner Ankündigung – die Stadt gar nicht verlassen hat. Manchmal, dass er innerhalb einer Arbeitswoche "Gespräche" auf drei verschiedenen Kontinenten geführt hat.

Augenringe

Im Gegensatz zu anderen Männern langweilt er Rita nie mit Bürostorys. Das sei gerade das Reizvolle an ihm, sagt sie, dass er seine Probleme im Job mit sich allein ausmacht. Und dass er Probleme hat, ist für sie offensichtlich: "Manchmal, wenn er nachts bei mir vorbeikommt, hat er tiefe Ringe unter den Augen, und seine Sehnen stehen so eigenartig hervor."

Egal, ob verheiratet oder in festen Händen – die beschriebenen Eigenheiten passen perfekt zu einem der üblichen Alltags-Casanovas. Man kennt ihre Rechtfertigungen: "Ich kann ohne meine Kinder nicht leben." Oder: "Wir kommen gut miteinander aus. Es ist ein funktionierendes System, dass keiner von uns verlassen will." Oder, die trostloseste aller Varianten: "Finanziell ist eine Scheidung, leider, leider, nicht drin."

Geheimnisse

Lügen und Betrug, der Klassiker auf dem Gebiet der Sehnsuchtsmaschinen. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Endzeitszenarios versuche ich, Rita davor zu warnen. Und hätte womöglich Erfolg gehabt – wenn, ja, wenn sie vor zwei Tagen nicht heimlich in Davids Wohnung herumgeschnüffelt hätte: Dabei fand sie angeblich einen zweiten Pass. Auf dem Foto war ihr Superlover zu sehen, bloß, dass er diesmal nicht David, sondern Boris hieß. Auch das Geburtsdatum war ein anderes.

"Ich verhalte mich so, als wäre nichts." – "Wieso das denn?" – "Weil das Geheimnis dahinter entweder viel zu aufregend, viel zu gefährlich oder womöglich beides ist. Und außerdem will ich die Zeit mit diesem Mister X noch eine Weile genießen."

Während unsereins gemütlich im Bett liegt und sich im Binge-Watching-Verfahren Spionageserien wie The Americans, Berlin Station oder Büro der Legenden einzieht, lebt Rita ihren Echtzeit-Thriller. Wir bleiben seither auf Abstand. Es fängt mit einer Zeitungsübergabe im Park an und endet womöglich auf dem Dach eines fahrenden Schnellzuges – dafür hat man im realen Leben weder die Zeit noch die Nerven. (Ela Angerer, RONDO, 24.9.2020)