Der Ökonom Fred Luks repliziert auf Milo Rau. Der Theatermacher übe sich im Gastkommentar "In Widersprüchen atmen" in Courage, die nichts koste.

Sich erheben, Konzerne stürmen, Supermarktregale leerräumen – Milo Rau weiß ganz genau, was zu tun ist. Kritik reicht nicht mehr, alles – wirklich alles! – muss sich ändern. Angesichts dermaßen wuchtiger revolutionärer Verve muss jeder Einspruch feige, fad und fortschrittsfeindlich wirken. Trotzdem: Es muss sein.

Vielleicht ist der Hinweis nötig, dass auch ich in höchstem Maße an Fairness, Menschlichkeit und Gerechtigkeit interessiert bin. Ich finde zwar nicht, dass eine Änderung von allem möglich oder auch nur anstrebenswert ist – bin aber dezidiert der Auffassung, dass sich sehr, sehr vieles wandeln muss, wenn wir in einer fairen, menschlichen, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft leben wollen. Ja, es gilt, die "imperiale Lebensweise", wie Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem gleichnamigen Buch schreiben, hinter uns zu lassen und die Gesellschaft grundlegend umzubauen.

Krude Vorschläge

Um das zu bewerkstelligen, darin ist Rau zuzustimmen, reicht Kritik nicht aus. Es geht um ganz konkrete Transformationsarbeit. Aber um die Welt zu ändern, muss man sie verstehen – und kritisieren. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen wird erst dann produktiv, wenn wir uns ein plausibles Bild von den Zuständen machen und die Hoffnung auf etwas Besseres haben. Empörung ist oft berechtigt und gibt kurzfristig Energie – für das Langfristprojekt eines gesellschaftlichen Wandels aber brauchen wir Hoffnung.

Rau hegt keinerlei Hoffnung, sondern ist bis auf die Knochen pessimistisch: "Nur noch schlimmeres Unheil erwartet den Planeten." Staatliche Hilfen für Theater? "Solidaritätsdeko"! Demokratie und Wirtschaft? Abhängig von Großkonzernen! Kunstschaffende? "Programmierte Maschinen"! Wenig überraschend folgen auf eine derart grob geschnitzte "Analyse" krude Vorschläge, die in ihrer Schlichtheit kaum zu unterbieten sind. Wir müssen "ganz entspannt, ohne Zorn" Supermärkte plündern. Und Konzerne wie Audi "stürmen". "Wir alle", so Rau, wüssten, dass genau das zu tun wäre.

Kein Wagemut

Nein, eben nicht. Rau glaubt zu wissen, was zu tun wäre. Man staunt über die Plattheit von Diagnose und Therapie. Von der Fantasie und dem Wagemut des Theatermachers keine Spur. Stattdessen: Gratismut. So bezeichnet Hans Magnus Enzensberger die Simulation von Courage, die nichts kostet. Das mag aufmerksamkeitsökonomische Gewinne bringen – für die Verbesserung der Welt tut diese Form der Eitelkeit genau gar nichts. "In Widersprüchen atmen" ist Raus Text betitelt – aber die Uneindeutigkeit der Welt spielt dort nicht die geringste Rolle.

Was Rau hier betreibt, bringt Thomas Bauers Buch "Die Vereindeutigung der Welt" schon im Titel auf den Punkt. Bauer plädiert für Ambiguitätstoleranz, die heute so dringend gebraucht wird und die man in Raus Text vergeblich sucht. Gerade in polarisierten Zeiten von Klimaerwärmung, Corona-Krise und Technikrevolution sind Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten aber an der Tagesordnung. Wer das nicht aushält, hat’s schwer im Leben – und ist empfänglich für einfache "Lösungen".

Einfacher Populismus

Auch wenn vieles auf dieser Welt in einem sehr schlechten Zustand ist: Schwarz-weiß ist sie nicht. Ja, es gibt höchst kritikwürdige wirtschaftliche Machtkonzentration, Steuerflucht und Greenwashing – aber es gibt auch engagierte Firmen unterschiedlicher Größe und soziales Unternehmertum. In der Wissenschaft gibt es nicht nur den transformationsskeptischen ökonomischen Mainstream, sondern jede Menge kritische und innovative Forschung. In der Zivilgesellschaft gibt es die beinharte Vertretung ökonomischer Interessen ebenso wie Nichtregierungsorganisationen, die Druck auf Politik und Wirtschaft machen. In der Kunst (nicht nur dort) gibt es Zirkel des "Rechthabens, Beschämens und Beschämtwerdens" (Rau) – aber doch auch jede Menge Werke, die uns begeistern, verwirren, stören und damit Denk- und Transformationsprozesse befeuern.

Diese Buntheit und Vielfalt gilt es zu nutzen – ohne Naivität, aber eben auch ohne den Irrglauben, ganz genau zu wissen, was zu tun wäre. Eine faire, menschliche und gerechte Gesellschaft erreichen wir nicht durch Plünderungen, unausgegorene Fantasien des "Stürmens" von Konzernen oder andere einfache "Lösungen". Dass diese Form des Populismus die Gesellschaft nicht voranbringt, hat sich wohl spätestens in der Corona-Krise gezeigt: Als es darauf ankam, ist der Populismus der einfachen Lösungen krachend gescheitert.

"Echter" Mut dieser Tage in Minsk: Unterstützer der Opposition demonstrieren gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko.
Foto: AFP / Sergei Gapon

Angesichts der Buntheit und Uneindeutigkeit der Welt sind Raus Ausführungen befremdlich. Vollends unerträglich wird der hier zur Schau gestellte Gratismut, wenn man sich den echten Mut von Menschen vergegenwärtigt, die wirklich aufstehen, in Belarus zum Beispiel. Wenn wir die Welt auf demokratischem Weg besser machen wollen, helfen uns keine billigen Revolutionsfantasien. Eine Transformation der Gesellschaft ist ein mühevoller Prozess des Suchens, Lernens und Veränderns. Das erfordert Kampf, Streit und offene Denkräume. Die kann es in der Politik geben, in der Wissenschaft – und in der Wirtschaft! In der Kunst sowieso – wie man auch an Raus Arbeit sehen kann. (Fred Luks, 26.8.2020)