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Solidaritätskundgebung für die Opposition in Belarus (Weißrussland) vor der Moskauer Botschaft des Landes. Laut Experten beobachtet der Kreml die Ereignisse bei den Nachbarn mit einiger Sorge.
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Da sage noch einer, es gebe keine Medienvielfalt in Russland. Während die meisten europäischen Zeitungen nach der Diagnose der Berliner Charité mit der mutmaßlichen Vergiftung Alexej Nawalnys aufmachten, war in den Printausgaben der Iswestija und der Rossiskaja Gaseta (RG) am Dienstag gar kein Platz für den russischen Oppositionspolitiker. Die Iswestija – sie gehört zur Kreml-nahen "Nationalen Mediengruppe" – eröffnete das Blatt mit der geplanten Strafverschärfung für Gebietsabtretungen, die direkt der Regierung unterstellte RG mit der Forderung nach mehr Tankstellen.

Der Grund für die Berichterstattungslücke: Erst am Dienstag formulierte der Kreml seinen Standpunkt zur Affäre. Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow nannte die Schlussfolgerungen der Berliner Ärzte, die "eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer" (siehe Wissen unten) diagnostiziert hatten, voreilig.

John Sullivan, US-Botschafter in Moskau, forderter eine "unverzügliche, umfassende und transparente Untersuchung" seitens der russischen Behörden.

Laut Peskow ist eine Vergiftung nur eine von vielen Möglichkeiten. Daher lehnte er die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab. Solange das Gift nicht gefunden oder die Ursache von Nawalnys Zustand bekannt sei, gebe es keine Grundlage für Untersuchungen. "Bisher konstatieren wir nur, dass der Patient sich im Koma befindet", so Peskow.

Schielen nach Belarus

Peskow deutete an, dass auch ein Medikamentenmissbrauch oder "die Reaktion des Körpers auf andere Umstände" für das Koma des Oppositionspolitikers verantwortlich sein könne. Die ablehnende Haltung des Kreml zu einer Untersuchung des Falls lässt die Verdächtigungen einer Beteiligung der russischen Führung an der mutmaßlichen Vergiftung ihres schärfsten Kritikers natürlich nicht leiser werden.

Im Gegenteil. Es kursieren bereits zahlreiche Theorien über die Hintergründe der Tat. Immer wieder werden dabei auch die Ereignisse in Belarus (Weißrussland) zum Vergleich herangezogen. Norbert Röttgen etwa, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, sprach von einer möglichen "Warnung" an die russische Bevölkerung. Ihr Ziel sei es, vor dem Hintergrund der aktuellen Proteste in Belarus ein "klares Zeichen" an die russische Opposition zu senden, so der CDU-Politiker im ZDF.

Es sei erstaunlich, wie schnell die Lehren aus den Unruhen in Belarus gezogen worden seien, meinte der Petersburger Publizist Alexander Newsorow. "Es ist deutlich, dass die größte Schwäche der belarussischen Revolution im Fehlen eines erfahrenen, einheitlichen und harten Führers liegt", sagte er. Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja eigne sich vielleicht als Symbol, nicht aber als Strategin eines Umsturzes, so Newsorow.

Nervöse Obrigkeit

Ähnlich argumentiert der Politologe Fjodor Kraschenikow, der die Vergiftung Nawalnys mit der beginnenden Wahlkampagne in Russland verbindet. Im Herbst seien Regionalwahlen, nächstes Jahr die Duma-Wahl. Nawalny habe mit seiner Strategie der "klugen Abstimmung", die darauf zielt, alle Stimmen der Opposition auf den jeweils stärksten Gegenkandidaten des Kreml zu vereinen, gezeigt, dass er der russischen Führung schaden könne – und das mache diese nervös.

Um derartige Spekulationen zu beenden, wäre es eigentlich im Sinne Moskaus, Forderungen aus der EU aufzunehmen und transparente Untersuchungen einzuleiten. Neben der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat auch der EU-Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, auf Aufklärung des Falls gedrängt.

Doch das Verhältnis Russlands zur EU und einzelnen Mitgliedsstaaten ist zuletzt abgekühlt. Auch die traditionell guten Beziehungen zwischen Moskau und Wien werden derzeit durch die wechselseitige Ausweisung von Diplomaten belastet: Zunächst hatte Wien angekündigt, einen russischen Diplomaten auszuweisen. Als Grund steht der Vorwurf der Wirtschaftsspionage im Raum, die Bundesregierung wollte die Angelegenheit jedoch nicht näher kommentieren. Moskau zeigte sich empört und will nun einen österreichischen Diplomaten zur Persona non grata erklären.

Kürzlich haben auch Norwegen, Tschechien und die Slowakei russische Diplomaten des Landes verwiesen. (André Ballin, Gerald Schubert, 25.8.2020)