Muslim und Natalia (19) würden gerne wählen, dürfen aber nicht.

Foto: Petra Berger

Muslim ist 19 Jahre alt, und genau so lange wohnt er schon in Wien. Als Säugling kam er mit seinen Eltern aus Tschetschenien nach Österreich. Er darf hier arbeiten und zahlt Steuern. Aber in der Stadt mitbestimmen, in der er nicht nur lebt, sondern aufgewachsen ist, darf er nicht. Er ist auch gleichermaßen wie viele seiner Kollegen von Maßnahmen am Arbeitsmarkt abhängig, die nun wegen Corona getroffen werden – oder eben nicht getroffen werden. Sich per Kreuz auf einem Wahlzettel die politische Vertretung aussuchen, der er am meisten Lösungskompetenz für gesellschaftliche Probleme zutrauen würde, darf er aber nicht. Und das stört ihn.

Muslim ist einer von 72.000 jungen Wienern zwischen 16 und 24, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. EU-Bürger, zu denen Muslim ohnehin nicht zählt, dürfen zwar auf Bezirksebene mitbestimmen, aber auch bei den Landtagswahlen ihre Stimme nicht abgeben. Insgesamt sind mit 30 Prozent fast ein Drittel aller Wiener ab 16 Jahren nicht wahlberechtigt, in absoluten Zahlen ist das fast eine halbe Million Menschen. 80 Prozent leben schon länger als fünf Jahre hier, 53 Prozent länger als zehn Jahre. In der Altersgruppe der 26- bis 42-Jährigen sind es 40 Prozent.

Jugendarbeiter fordern Reformen

Wien ist in den letzten Jahren gewachsen, seit 2004 um 300.000 Menschen. Laut Zahlen des Integrationsmonitorings der Stadt Wien mit Stand Anfang 2020 haben 45 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, beide Eltern sind also im Ausland geboren. 37 Prozent wurden selbst im Ausland geboren, 31 Prozent sind ausländische Staatsbürger. Und der Trend geht weiter in diese Richtung.

Gleichzeitig sinkt die Zahl der Wahlberechtigten. Die Einbürgerungsrate liegt bei 0,8 Prozent. Durften 2002 noch etwa 16 Prozent nicht wählen, sind es heute schon fast doppelt so viele. Und diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren verstärken. Der Verein Wiener Jugendzentren sieht darin ein Problem.

Bereits zur Wien-Wahl 2015 startete er eine Initiative für das Wahlrecht junger Wiener, und auch dieses Jahr machen die Jugendarbeiter mit Nachdruck auf die Problematik aufmerksam: "Wir brauchen in diesem Bereich dringend Reformen", sagt Geschäftsführerin Ilkim Erdost. Wie das geschehe, sei nachrangig: Durch den leichteren Zugang zur Staatsbürgerschaft – dieser ist hierzulande im europäischen Vergleich sehr restriktiv geregelt –, einer Ausweitung des Wahlrechts oder dem Adaptieren eines Konzepts wie jenes des "Urban Citizenships", bei dem gewisse Rechte vom Aufenthaltsstatus entkopppelt werden.

Überall sehe man vor Wahlen Slogans wie "Deine Stimme zählt", sagt die 19-jährige Natalia. Sie ist hier geboren, darf aber nicht wählen. Politik habe sie früher schon interessiert, aber wenn bei anstehenden Wahlen viele ihrer Freunde wählen gehen und sie nicht, fühle sich das komisch an.

Paradoxe Situation

In seiner Familie werde nicht viel über Politik diskutiert, sagt Muslim. In der Schule sei das anders gewesen; dort sei er mit politischen Themen konfrontiert worden, auch unter Freunden habe man diskutiert. Gerade in Fächern wie Geschichte oder politischer Bildung kommt es oft zu paradoxen Situationen, wenn Kindern die Wichtigkeit des Wählens von Lehrern immer wieder nahegelegt wird. Muslim findet, dass mit Pflichten auch Rechte einhergehen sollten. Er wüsste nicht, wo er politisch mitbestimmen sollte, wenn nicht hier: "Ich bin Wiener, was sonst?"

Die Jugendarbeiter warnen davor, dass es für viele junge Menschen schwierig sein werde, sich nach jahrelangem Ausschluss an demokratischen Prozessen zu beteiligen. "Demokratie wird verlernt", sagt Erdost. Damit drohe auch der Stadt ein nachhaltiger Verlust von Kulturtechniken wie der Fähigkeit zur demokratischen Mitbestimmung. Lust auf Engagement werde verleidet, Frustration und Ablehnung gefördert: Es gebe hier eine "ganz große Verantwortung", die die Republik gegenüber den Jugendlichen wahrnehmen müsse, sagt Erdost. (Vanessa Gaigg, 26.8.2020)