Das Milgram-Experiment von 1961 hat über die Fachdisziplin der Psychologie hinaus Geschichte geschrieben: US-Psychologe Stanley Milgram hatte seine Probanden in die Rolle von Lehrern oder Fragestellern versetzt, die den von ihnen Befragten Elektroschocks versetzten, wenn diese eine falsche Antwort gaben. Angeblich sollte so getestet werden, ob das den Lernerfolg verbessert.

Tatsächlich wurde damit aber überprüft, wie sehr Menschen dazu bereit sind, anderen Schaden zuzufügen, wenn eine Autoritätsfigur ihnen erklärt hat, dass dies gerechtfertigt sei und einer guten Sache diene. (Die Befragten gehörten zum Team des Experiments und täuschten nur vor, Stromschlägen ausgesetzt zu sein.)

Neues Experiment

Auch Wiener Psychologen haben nun ein Experiment mit Elektroschocks durchgeführt. Ihnen ging es aber nicht darum, die Autoritätshörigkeit zu überprüfen, sondern das prosoziale Verhalten, also die Neigung, etwas zum Nutzen anderer zu tun. Und die Ergebnisse, die im "Journal of Neuroscience" veröffentlicht wurden, lesen sich etwas positiver als die des Milgram-Experiments.

Das Team um Claus Lamm und Lukas Lengersdorff vom Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden an der Universität Wien untersuchte 96 männliche Versuchspersonen mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRT). In der Studie mussten die Versuchspersonen wiederholt zwischen zwei Symbolen wählen. Eines der beiden löste sehr oft einen schmerzhaften Elektroschock aus, während das andere ur selten zu einem Schmerzreiz führte. Durch wiederholtes Ausprobieren sollten die Versuchspersonen lernen, durch welche Auswahl sie die Anzahl der schmerzhaften Schocks reduzieren konnten.

In der ersten Hälfte der Versuche mussten die Versuchspersonen diese Entscheidungen treffen, um für sich selbst Elektroschocks vermeiden. In der zweiten Hälfte mussten sie die Entscheidungen für einen zweiten Versuchsteilnehmer treffen, welchen sie vor dem Experiment kennengelernt hatten.

Ergebnis und Interpretation

Das interessante Ergebnis: Im Schnitt erwiesen sich die Probanden als effizienter beim Vermeiden von Stromstößen, wenn diese anderen Studienteilnehmern drohten. Durch mathematische Verhaltensmodelle konnten die Forscher feststellen, dass die Versuchspersonen sensibler zwischen dem besseren und dem schlechteren Symbol unterschieden, wenn ihre Auswahl einen Mitmenschen betraf.

Im Gehirn spiegelte sich dies laut Universität Wien in einer erhöhten Aktivität im ventromedialen präfrontalen Kortex wider, einem Gehirnareal, welches unter anderem für die Bewertung von Umweltreizen und Handlungsoptionen zuständig ist. Zudem kommunizierte dieses Hirnareal während Entscheidungen für den anderen verstärkt mit dem rechten temporoparietalen Cortex. Dieses Hirnareal wird vor allem mit sozialer Kognition, wie etwa der Perspektivenübernahme, in Verbindung gebracht. Prosoziale Entscheidungen könnten daher durch ein Zusammenspiel von Gehirnregionen entstehen, die einerseits Bewertungsprozesse, andererseits auch soziale Informationen verarbeiten.

Die Wissenschafter werten die Studienergebnisse als Hinweis darauf, dass prosoziales Verhalten spontan auftreten könnte. Das steht zwar in einem gewissen Gegensatz zu anderen Befunden, die sich Lengersdorff allerdings damit erklärt, dass es in diesen Untersuchungen "immer um das Erspielen von Geld" ging. "Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass sich der Effekt gewissermaßen umdreht, wenn nicht das finanzielle, sondern das körperliche Wohlbefinden und der Schutz einer anderen Person auf dem Spiel steht", so der Wissenschafter. (red, 30. 8. 2020)