Richter Andreas Böhm schlägt sich in einem Verfahren um fahrlässige Körperverletzung durch einen Arzt und einen Therapeuten mit widersprüchlichen Aussagen herum.

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Wien – Es geht im Verfahren gegen Doktor P. und den in seinem Zentrum angestellten südkoreanischen Therapeuten um "gelbe Entgiftungskugeln", Enzyme, die nach einem "Geheimrezept" abgemischt werden, und Akupressur gegen eine lebensgefährliche Erkrankung. So stellt es zumindest die Mutter einer heute 13-Jährigen dar, die nach ihren Angaben darauf vertraut hat, dass die beiden Männer ihre Tochter kompetent behandeln. Stimmt nicht, behauptet dagegen der 48 Jahre alte Erstangeklagte: Es sei immer klar gewesen, dass es lediglich um eine Komplementärtherapie gehe, die eine vernünftige medizinische Behandlung nicht ersetzen könne. Letztere habe aber die Mutter abgebrochen.

Richter Andreas Böhm muss also entscheiden, ob die beiden Männer sich der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht haben. Der Leidensweg des Mädchens hat im Jahr 2012 begonnen, als es fünf Jahre alt war. Damals wurde schlussendlich bei dem Kind eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert, nachdem es in mehreren Spitälern untersucht worden war. Im Juni 2013 nahm die Mutter erstmals Kontakt mit Doktor P., einem Allgemeinmediziner, der allerdings in seinem Wiener Zentrum primär "Komplementärmedizin" anbietet, auf.

Medikamentöse Behandlung beendet

Die ergänzende Behandlung begann, gleichzeitig bekam das Kind in einem Krankenhaus seines Heimatbundesland auch Medikamente. Als die Ärzte dort 2014 in den Raum stellten, dass möglicherweise der Dickdarm des Mädchens entfernt werden müsse, sei sie verzweifelt, sagt die Mutter, die ausgebildete Krankenschwester ist, vor Gericht. Sie holte zweite und dritte Meinungen bei anderen Praktizierenden der evidenzbasierten Medizin ein. Schließlich, so stellt sie es dar, habe aber Therapeut P. der Zweitangeklagten gesagt, er könne die Beschwerden auch so lindern. Das Medikament müsse abgesetzt werden, da es das Mädchen vergifte. Das habe sie dann gegen den Rat der behandelnden Ärzte auch gemacht.

Erstangeklagter P. bestreitet das vehement. Er sei der behandelnde Wahlarzt gewesen und habe immer klargestellt, dass es primär eine konservative Therapie geben müsse. Allerdings, wie er auf Nachfrage von Staatsanwältin Bettina Sommer zugeben muss, es gab nie einen schriftlichen Behandlungsvertrag. Übrigens auch keine Rechnungen für die zwischen 600 und 1000 Euro teuren Behandlungen.

Doktor P. vertritt den Standpunkt, er habe 2014, als die Mutter die medikamentöse Therapie abbrach, sogar noch einen weiteren Facharzt vorgeschlagen, den sie aber nie besucht habe. Warum er sich nie Blutbefunde zeigen habe lassen, wie es bei dieser Krankheit üblich ist? Er habe die Mutter darum gebeten, die habe gesagt, das Mädchen hätte Angst vor Spritzen und außerdem gehe es dem Kind gut.

"Prof. Dr. Dr." auf Kittel

Aus Sicht des medizinischen Sachverständigen deshalb, da die medikamentöse Therapie den Zustand noch im Nachhinein verbesserte. Aus Sicht der Mutter offenbar durch die wundersamen Behandlungsmethoden des Zweitangeklagten. Dass der in Österreich gar keine Zulassung als Arzt hatte, will sie nicht gewusst haben, ihr habe er sich als weltweit tätige Koryphäe präsentiert. Außerdem sei er in dem Zentrum mit weißem Kittel und Namensschild "Prof. Dr. Dr. P." aufgetreten. Wie die Konversation gelaufen sein soll, ist unklar – denn Richter Böhm vertagt die Einvernahme des Therapeuten, da ihm dessen Deutschkenntnisse zu gering sind.

Die Familie muss jedenfalls so zufrieden gewesen sein, dass sich auch Mutter und Vater in dem Zentrum behandeln ließen, die Mutter machte dann sogar eine Ausbildung für "Traditionelle chinesische Medizin". Der gerichtliche Sachverständige vermutet eine Fixation auf Dr. P. und hält ihm das auch vor: "Es wäre aus rechtlicher, medizinischer und auch menschlicher Sicht entscheidend, dass man die Mutter von dieser Fixation auf Sie als Heilsbringer wegbekommt." – "Ich habe diese Fixation erst am Schluss wahrgenommen", behauptet der Erstangeklagte.

Zustand verschlimmerte sich rasant

Im Sommer 2019 verschlechterte sich der Zustand des Mädchens, ihre Füße schwollen an, sie klagte über Schmerzen. Die Situation entwickelte sich dramatisch, erinnert sich auch der Erstangeklagte. "Am 10. Juli sah ich, dass das Kind Schmerzen beim Gehen hat. Ich sagte, es muss ins Spital, das wollten aber die Eltern nicht." Er sei angesichts seiner Befürchtungen, dass das Mädchen schwer krank sei, im Zwiespalt gewesen, was er machen sollte. Da die Mutter am nächsten Tag wiederkommen wollte, habe er dem zugestimmt.

Am nächsten Tag musste der Vater seine Tochter sogar tragen, da sie derartige Schmerzen hatte. Der Erstangeklagte sagt, er habe neuerlich auf eine Spitalsbehandlung gedrängt. Allzu vehement kann das nicht gewesen sein – die Eltern fuhren mit dem Kind noch in ihr Heimatbundesland, dort kam das in Lebensgefahr schwebende Mädchen sofort auf die Intensivstation. In der Klinik verständigte man das Jugendamt, erst so kam der Fall ins Rollen.

Die Mutter bleibt dabei: Sie sei davon ausgegangen, dass ihre Tochter in dem Zentrum eine umfassende Therapie erhalte, das sei ihr von den beiden Angeklagten zugesichert worden. Bei der Befragung durch die beiden Verteidiger Martin Deuretsbacher und Marcus Januschke bleibt sie allerdings Antworten schuldig, warum ihr als Krankenschwester nicht aufgefallen sei, dass keinerlei konventionelle Anamnese und Therapie in dem Zentrum erfolgt sei. "Ich war leider so naiv und dumm, dass ich daran geglaubt habe", ist ihre wichtigste Argumentation.

Um einen Dolmetscher für den Zweitangeklagten zu organisieren und die Verhandlungsfähigkeit des Mädchens überprüfen zu lassen, vertagt Richter Böhm auf unbestimmte Zeit. (Michael Möseneder, 26.8.2020)