"Die Nadeln müssen spitz genug sein, damit man einen Käfer durchstechen kann": Hildegard Winkler (78) hält so eine Nadel zum Käfer-Durchstechen in den Fingern. In ihrem Geschäft – seit über 100 Jahren in einer Hochparterrewohnung in Währing – ist es düster. Die dunklen Kästen, in denen Käfer und Schmetterlinge groß wie Handflächen still vor sich hin hängen, schlucken Licht. Winkler verkauft hier seit 40 Jahren jeden Tag alles, was man für Entomologie, die Insektenkunde, so braucht. Sie bedient damit ein derart seltenes Publikum, wie die Nadel in ihrer faltigen Hand spitz ist.

"Dr. Winkler, Fachgeschäft & Buchhandlung für Insektenkunde", wie es auf dem Schild zur Straße raus heißt, ist einer dieser Einzelhandelsanachronismen, von denen es in Wien noch einige gibt. Diese Geschäfte, die ausschließlich Knöpfe oder gebrauchte Modelleisenbahnen führen, sind meistens getragen von älteren Stammkunden und mindestens so alten Mietverträgen. Läden, die alle super finden, wo man aber doch viel zu selten einkauft.

Seit 40 Jahren verkauft, sortiert und katalogisiert Hildegard Winkler Insekten: "Es ist schon fast mehr wie
ein Ehrenamt."

Hildegard Winkler ist das, was man gern eine "Dame" nennt: gut frisiert, gebildet, auf höfliche Weise bestimmt. Sie zieht nacheinander Schubladen mit braunen Nachtfaltern heraus, fein säuberlich aufgereiht. "Das sind die sogenannten Noctuidae. Hatten Sie Latein in der Schule?", fragt sie streng. "Der Totenkopfschwärmer, den kennt man aus diesem Film", sagt sie bei einer anderen Schublade und meint Das Schweigen der Lämmer, in dem das Insekt eine tragende Rolle spielt.

Hier hat alles Patina. Die hohen Schaukästen, die großen Kescher vor den Fenstern. Die Maschine, mit der man Etiketten drucken kann, auf denen Name und Fundort des Insekts verzeichnet werden. Hier steht die Luft und auch die Zeit.

Entomologie ist eines dieser Hobbys, das langsam vor sich hin siecht, sich dem endgültigen Tod aber verweigert. Die wenigen Enthusiasten in Wien sind fast alles ältere Männer, die auf natürlichem Weg weniger werden. Dafür vernetzen sich die kleinen Communitys mittlerweile weltweit. Winkler verkauft heute mehr online als im Geschäft, verschickt Pakete bis nach Neuseeland. Man kann ihr die Bestellung "brieflich, telefonisch oder per E-Mail" übermitteln, sie trägt die Pakete dann gewissenhaft zur Post.

Käfer per Klick

In den Paketen ist potenziell alles, was Hildegard Winkler in ihrem Geschäft führt: Insekten, Literatur, Zubehör. Die Entomologie ist im Kern ein einfaches Hobby: Man braucht einen Schaukasten, ein paar Nadeln zum Aufspießen oder als Alternative Plättchen zum Aufkleben. Dazu noch Geduld, die entsprechende Literatur und Gift, um die gesammelten Insekten zu töten. Früher hat man dafür Zyankali benutzt, heute vor allem Essigäther.

Der Konservierungsvorgang ist einfach: Sie werden luftgetrocknet und halten dann lange. Über 100 Jahre alte Präparate sind keine Seltenheit. Man kann Käfer in der Natur sammeln oder bei Hildegard Winkler kaufen. Das fängt bei unter zehn Euro an und geht bis zu 200 Euro für seltene tropische Insekten. Winkler ist jedes Jahr zweimal auf der Insektenbörse in Modena, um neues Material zu besorgen.

Bei Hildegard Winkler kann man noch Dinge bekommen, die es anderswo längst nicht mehr gibt. Nadeln der Firma Emil Arlt zum Beispiel, deren Fabrik vor 20 Jahren geschlossen wurde. Besonders gefragt ist auch der "Winkler", der von ihrem Großvater erfunden wurde. Das ist quasi ein Stofftrichter zum Aufhängen. Oben kommen Beutel mit Erde rein, unten purzeln die Käfer heraus. "Der Winkler" ist aber auch der Name für ein Lexikon der Käfer der gemäßigten Klimazonen.

In dunklen, schweren Kästen lagern Käfer und Schmetterlinge.
Heribert Corn

"Die Winkler", also Hildegard, wird in die Entomologendynastie Winkler hineingeboren. Ihr Großvater gründet das Geschäft im Jahr 1906, nach dem Krieg übernimmt es der Vater. Es läuft mehr schlecht als recht. Die Tochter will mit alledem nichts zu tun haben, studiert Publizistik, unterrichtet in den 70ern in Udine österreichische Literatur. "Das war die schönste Zeit", sagt sie. "Ich bin von dem grauen, alles erstickenden Wien nach Italien gekommen. Dort bin ich aufgeblüht."

Als ihr Vertrag in Italien nicht verlängert wird, muss Winkler in das graue, alles erstickende Wien zurück. Ihr Vater stirbt 1980, das Geschäft ist in schlechtem Zustand. Die Gänge sind vollgestellt, die Sammlung nicht ordentlich katalogisiert. Irgendwer muss das in Ordnung bringen, aber Winkler will eigentlich nicht. Sie hat bis heute keine einfache Beziehung zu Insekten und dem Geschäft, das sie seit 40 Jahren führt. Wenn sie redet, blitzt immer wieder die schwierige Familiengeschichte durch.

Hildegard Winkler beschließt doch, das Geschäft wieder auf Vordermann zu bringen. Ein Freund, der Künstler Franz West – damals noch "eher sandlerartig als berühmt", wie Winkler es ausdrückt – hilft ihr. Er malt aus, die weiß gestrichene Toilette ist bis heute unangetastet. Und damit ist Winkler einer der wenigen Menschen, dessen Toilette quasi ein echter West ist.

Beruf ohne Berufung

Winkler rutscht tiefer in die Geschäftsführung, baut das Literaturangebot aus. Und nach einigen Jahren merkt sie plötzlich: Es macht Spaß, zumindest ein bisschen. Winkler ist mittlerweile nur noch zwei Stunden täglich im Laden, von 10 bis 12 Uhr, dienstags auch nachmittags. Sie nimmt Telefonanrufe entgegen, packt Päckchen. Und manchmal kommt doch ein Kunde ins Geschäft.

Hildegard Winkler hat ihren Frieden mit alldem hier gemacht. Sie redet gern, weiß notgedrungen viel über die Tiere. Aber es ist Beruf geblieben, nie Leidenschaft geworden. Schlecht ist ihr Leben trotz vieler Schicksalsschläge dann aber zum Glück doch nicht. Sie bekommt eine Pension, lebt im Sommer in Niederösterreich und im Winter gerne in Thailand. Vor einem Jahr hat sie noch einmal geheiratet, ihren langjährigen Lebensgefährten. Der ist 83 Jahre alt und "extrem fleißig", sagt Winkler lobend. Das Geschäft sieht sie heute mehr als Ehrenamt, auch für die betagten Sammler. "Ich kann ja gar nicht sterben", sagt sie entschuldigend. "Es will ja niemand das Geschäft übernehmen." (Jonas Vogt, 27.8.2020)