Swetlana Alexijewitsch ist im Visier des Machtapparats.

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Zuerst tausende Festnahmen, dann ein weitgehender Rückzug der Polizei, dann erneute Verhaftungen und juristischer Druck auf die Opposition: Auch zweieinhalb Wochen nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Belarus (Weißrussland) zeichnet sich im Konflikt zwischen der Staatsführung und der Protestbewegung keine Lösung ab.

Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko reklamiert den Sieg – mit den offiziell verlautbarten 80 Prozent der Stimmen – weiterhin für sich und will in seine insgesamt sechste Amtszeit starten. Die Protestbewegung, die ihm Wahlbetrug vorwirft, lebt indes gefährlich: Wie das Menschenrechtszentrum Wesna am Mittwoch mitteilte, sind in Minsk und anderen Städten erneut mehr als 50 Menschen festgenommen worden – die höchste Zahl seit Tagen. Das Innenministerium bestätigte die Angaben.

Im Vergleich zu den ersten Tagen nach der Wahl vom 9. August nimmt sich diese Entwicklung wenig spektakulär aus: Damals waren rund 7000 Demonstrantinnen und Demonstranten in Gewahrsam genommen worden, viele berichteten nach ihrer Freilassung von schweren Misshandlungen. Dennoch spricht derzeit wenig für eine neue Dialogbereitschaft des Regimes. Vielmehr setzen Lukaschenko und sein Umfeld nun auf einen Mix aus Einschüchterung durch Sicherheitskräfte und Justiz.

Prominente Oppositionelle

Vor allem der neu geschaffene Koordinierungsrat der Zivilgesellschaft, der einen friedlichen Machtwechsel anstrebt, ist der Staatsführung ein Dorn im Auge. Zwei Mitglieder dieses Gremiums, Olga Kowalkowa und Sergej Dylewski, waren erst am Dienstag zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt worden.

Am Mittwoch stand dann die Vernehmung der vermutlich prominentesten Vertreterin des Koordinierungsrats auf dem Programm: Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sollte vor den Ermittlern aussagen. Kurz zuvor meldete sich die Schriftstellerin in Minsk zu Wort und rief zum Zusammenhalt des Volkes sowie zum friedlichen Widerstand gegen Lukaschenko auf: "Gott bewahre, dass Blut vergossen wird", so die 72-Jährige. "Wir müssen mit der Kraft unserer Überzeugungen gewinnen."

"Wir brauchen Hilfe"

Alexijewitsch ist auch Mitglied im siebenköpfigen Präsidium des Koordinierungsrats. Angesichts der bisher erfolglosen Versuche, einen Dialog mit dem Machtapparat zu beginnen, bat sie auch um Unterstützung von außen: "Wir brauchen Hilfe", erklärte sie, und setzte ihre Hoffnungen dabei auch in den Westen. Vielleicht könne dieser – wohlgemerkt über den russischen Präsidenten Wladimir Putin – auf Lukaschenko einwirken und ihn dazu bringen, sich gesprächsbereit zu zeigen.

Unterstützung für Alexijewitsch kam am Mittwoch aus Berlin: Der deutsche Außenminister Heiko Maas kritisierte die Festnahme von Oppositionellen scharf und drohte der Regierung in Minsk mit Konsequenzen: "Es ist absolut inakzeptabel, dass Mitglieder des Koordinierungsrats verhaftet, verhört und eingeschüchtert werden."

Signal an Moskau

Der Berliner Chefdiplomat betonte dabei ausdrücklich, dass der Koordinierungsrat an einer friedlichen Lösung der Krise arbeite und sich nicht gegen enge Beziehungen zwischen Russland und Belarus richte.

Beides sind wichtige Signale – nicht nur an die Konfliktparteien in Minsk, die zum Gewaltverzicht aufgerufen werden, sondern auch an Moskau, wo der Kreml einmal mehr das Schrumpfen seiner Einflusssphäre in Osteuropa fürchtet.

Dass umgekehrt Lukaschenko von einer äußeren Bedrohung aus dem Westen spricht, weist man wiederum in der Nato strikt zurück: Anders als von Minsk behauptet gebe es keine militärische Aufrüstung der Nato an den Grenzen von Belarus, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch. Die Nato "als Vorwand zu nutzen, um gegen Demonstranten vorzugehen", sei "absolut ungerechtfertigt".

Keine Geopolitik

Immer wieder weisen Beobachter darauf hin, dass die Opposition in Belarus gar nicht gegen den Einfluss Moskaus aufbegehrt, sondern gegen Wahlbetrug und den ungeliebten Lukaschenko samt seinem autoritären Machtapparat. "Es wäre verheerend, wenn wir als EU diesen Konflikt geopolitisieren – nach dem Motto: Belarus ist aufgewacht und muss zu uns rüber", erklärte etwa der Osteuropaexperte Reinhard Krumm von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung am Mittwoch in einem Onlinegespräch mit dem SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Andreas Schieder. Bei den Protesten gegen Lukaschenko würden belarussische Flaggen gezeigt, nicht EU-Flaggen, so Krumm. (Gerald Schubert, 26.8.2020)