Wien prahlt damit, dass es seit Jahren wächst. Immer mehr Menschen zieht es in die Bundeshauptstadt – nicht nur aus anderen Teilen Österreichs, sondern auch aus Ländern der ganzen Welt. Die Lebensqualität ist in Wien mit den vielen Grünflächen besonders hoch, Bildungs- und Gesundheitssystem funktionieren im Großen und Ganzen sehr gut, und es gibt auch ausreichend Jobs – zumindest vor der Corona-Krise war dieses Argument für viele ausschlaggebend dafür, nach Wien zu kommen. Schaut man sich die Zahlen an, dann ist die Entwicklung schon beeindruckend: Lebten Mitte der 1980er-Jahre noch 1,5 Millionen Menschen in Wien, sollen es laut Prognosen 2027 bereits über zwei Millionen sein. Ein Stadtentwicklungsgebiet nach dem anderen wird aus dem Boden gestampft, ebenso der Ausbau anderer wichtiger Infrastruktur vorangetrieben – etwa der Bau von U-Bahnen.

Am 11. Oktober 2020 finden in Wien Landtags- und Gemeinderatswahlen statt.
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Was mit der Entwicklung einhergeht, ist aber auch, dass immer mehr Menschen, die in Wien leben und hier ihre Steuern zahlen, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Heuer sind es bereits 480.000 Menschen, die am 11. Oktober nicht um ihre Stimme bei der Gemeinderatswahl gebeten werden, weil sie keine österreichischen Staatsbürger sind. Das ist rund ein Drittel aller Wienerinnen und Wiener. Bei den Bezirksvertretungswahlen besteht auch für nichtösterreichische EU-Bürger mit Hauptwohnsitz in Wien die Möglichkeit, zu wählen und zu kandidieren. Das sind immerhin 13 Prozent.

Politikverdrossenheit

Da der Wiener Gemeinderat gleichzeitig auch ein Landtag ist, wäre es die Aufgabe des Bundes, für Änderungen zu sorgen. Argumente, die dafür sprechen, gibt es. So schlagen etwa Jugendarbeiter Alarm. Denn 72.000 Menschen zwischen 16 und 24 sind laut ihren Angaben vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Viele von ihnen sind jedoch hier geboren und lernen in der Schule auch, wie wichtig politische Teilhabe ist. In Fächern wie Politische Bildung geht es darum, dass Demokratie besser funktioniert, wenn man seine Stimme erhebt. Es ist paradox, wenn man ihnen dann den Gang in die Wahlkabine verwehrt. An sich ist der Politik die Teilhabe der Jungen ja wichtig, das zeigt die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Spätestens Mitte September wird die ganze Stadt wieder mit Wahlplakaten zugepflastert sein, und Spitzenkandidaten werden nicht müde werden zu erklären, dass man ja zur Wahl gehen solle. Die Gefahr der Politikverdrossenheit besteht dann umso mehr, wenn man sich dadurch gefrotzelt fühlt. Die Tendenz dazu gibt es ohnehin. Schon bei der letzten Wahl 2015 sind 25 Prozent jener, die wählen durften, zu Hause geblieben.

Um Integration zu fördern, und das wird auch im Wahlkampf wieder Thema sein, braucht es außerdem immer ein Geben und Nehmen. Wir verlangen von Zugewanderten, dass sie sich anpassen. Warum passen wir dann nicht auch unsere Regelungen für sie an? Es wäre das Mindeste, zumindest den in Österreich Geborenen das Wahlrecht zu geben. Denn auch sie sind Wienerinnen und Wiener. (Rosa Winkler-Hermaden, 26.8.2020)