Fünf Jahre ist es her, dass 300.000 Flüchtlinge ins Burgenland kamen. Heute sieht man das dem Grenzgebiet nur noch an, weil Zaunteile herumstehen.
Foto: Christian Fischer

Da liegt es einfach da, dieses Türl mit Seitenteilen. Manche Teile sind noch verpackt, Plastik flattert im Wind. Unzählige Stück Zaun stehen dahinter, grüner Draht, graues Blech, Reih um Reih. Ein paar hundert Meter Zaun sind rund um eine Containerzeile aufgestellt, in der das Bundesheer sich einquartiert hat. Nicht weil sie besonders schützenswert sind, sondern weil man sonst keinen Platz mehr hätte, wo man die Zaunelemente hinpacken könnte. Sie sind die letzten Stücke, die hier, am Grenzübergang Nickelsdorf, an die Geschehnisse vor fünf Jahren erinnern.

Denn am Rand des Areals, wo nun ebenfalls ein paar Meter Zaun stehen, ist die Grenze zu Ungarn. Über die gingen 2015 Geflüchtete nach Nickelsdorf. 300.000 Menschen kamen laut dem Roten Kreuz in diesen Sommer- und Herbstmonaten aus Ungarn ins Burgenland, die meisten davon an dieser Stelle.

Wie haben sich die Erlebnisse von damals in das Gedächtnis von Nickelsdorf und seinen Bewohnern eingeschrieben? Was bleibt, fünf Jahre nach einer Zäsur in der globalen Migrationsbewegung? Und was ist das für ein Ort, der für viele Schutzsuchende der erste Eindruck war, den sie von Österreich bekamen?

Eine Raika und zwei Soldaten

Nickelsdorf ist das, was man gemeinhin unter Kaff versteht: Knapp 1.800 Menschen leben dort, die einzige Bank ist eine Raika, und es gibt einen Nahversorger, der über Mittag geschlossen hat. Steigt man aus dem Regionalzug aus, sieht man einen Traktor am Feld hinter dem Bahnsteig. Und zwei Bundesheersoldaten, die im Wartehäuschen davor sitzen und auf ihren Handys scrollen.

Josef Pammer steht an seinem Gartenzaun in der Bahnstraße, nur wenige Schritte vom Nickelsdorfer Bahnhof und vier Kilometer vom verwaisten Grenzzaun entfernt. Genau hier, sagt Pammer und zeigt auf die Straße vor seinem Haus, seien eines Morgens vor fünf Jahren plötzlich tausende Menschen vorbeigezogen. Weder ein Anfang noch ein Ende der Schlange sei in Sicht gewesen, erzählt der Pensionist. Das sei "schon unglaublich" gewesen.

Josef Pammer wohnt seit 60 Jahren in Nickelsdorf.
Foto: Vanessa Gaigg

Seit sechzig Jahren wohnt Pammer in Nickelsdorf. Der pensionierte Zollbeamte ist im Pfarrgemeinderat und im Tennisclub, er kennt den Ort und auch seine Leute. Als die Masse an Schutzsuchenden hierher kam, war er mit seiner Familie unter jenen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierten. Sie verteilten Wasser, Essen, sortierten Spenden, machten Frühstück in der Notunterkunft.

"Wir schaffen das"

Tatsächlich waren die tausenden Menschen, die an dem Tag vor Pammers Haus vorbeizogen, nur die Spitze des Eisbergs. Gerhard Zapfl, roter Bürgermeister des Ortes, weiß genau, von welchem Tag Pammer spricht. Es war der 11. September 2015, als es den Geflüchteten in Nickelsdorf zu viel wurde und sie ins Dorf Richtung Bahnhof gingen, jener Tag, an dem selbst all die eilig organisierten Busse und Züge sie nicht mehr vom Grenzposten wegbringen konnten.

Gerhard Zapfl (SPÖ) ist Bürgermeister von Nickelsdorf. Bei der Gemeinderatswahl 2017 kam die SPÖ auf 50,5 Prozent, verlor allerdings fast neun Prozentpunkte gegenüber dem letzten Urnengang. Die ÖVP kam auf 37,2 Prozent, die FPÖ auf 9,1. Die Grünen spielen mit 3,2 Prozent eine untergeordnete Rolle.
Foto: Christian Fischer

Schon seit Tagen waren Zigtausende ins Land gekommen: Am 31. August sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Wir schaffen das", am 4. September entschieden sie und der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), die Grenzen zu öffnen. Den 11. September bezeichnet Zapfl rückblickend als "psychologisch bedrohlich". "Wenn du solche Bilder vor dem Fernseher siehst, dann kannst du abschalten", sagt er, "aber wenn sie da sind, dann ist auch das Bewusstsein, dass so etwas immer wieder passieren kann, da." Dennoch spricht Zapfl von jenem Herbst als einer "friedlichen Zeit". Ja, es habe "im Untergrund" der Nickelsdorfer Leute gegeben, "die sich negativ artikuliert haben", aber der Flächenbrand sei ausgeblieben.

Absehbare Entwicklung

Für viele kam der Tag überraschend, doch der Einsatz der Hilfskräfte begann schon davor. Für Sandra Nestlinger zum Beispiel im Mai in Neusiedl am See. Sie leitet den Katastrophendienst des Roten Kreuzes im Burgenland. Doch die Herausforderungen wuchsen von Monat zu Monat. Die Stimmung im September sei beim Anblick der vielen Menschen "überwältigend" gewesen. "Die wenigsten haben Österreich gekannt, geschweige denn Nickelsdorf. Sie wollten nur irgendwo ankommen und sicher sein."

Wo sie ankamen, das war ein Betonfleck; der Grenzübergang Nickelsdorf ist ein riesiges Areal. Auf dem Parkplatz, wo jetzt Lkw-Fahrer ihre Ruhezeiten verbringen, war vor fünf Jahren das Zentrum der Krise. Da warteten die Menschen zu Tausenden, es wurden Busse herangekarrt und Spenden. Unter dem Flugdach weiter vorne war die Erstversorgung eingerichtet, da wurde Kleidung und Essen ausgegeben. Heute steht dort nur noch ein kleiner Polizeicontainer, hier werden Zollkontrollen durchgeführt und Geflüchtete aufgegriffen, erst vergangene Woche zwei, die sich beim Reserverad eines Lkws versteckt hatten.

Nickelsdorf im Jahr 2020.
Foto: Christian Fischer
Nickelsdorf im Jahr 2015.
Foto: Christian Fischer

Nebenan ist die Pkw-Spur, kilometerlang staut es sich in Richtung Ungarn, während Bundesheersoldaten Corona-Gesundheitschecks durchführen. 2015 standen hier die Taxler, die das große Geld rochen, hunderte Euro verlangten sie für einen Transport ins Innere von Österreich. Andere Taxis – und Privatpersonen – brachten die Leute auch aus Ungarn über die Grenze, Schlepperei konnte ihnen nach österreichischem Recht aber nur dann zur Last gelegt werden, wenn sie sich persönlich bereicherten. Viele Verfahren wurden eingestellt, heißt es heute von der Staatsanwaltschaft Eisenstadt. 222 Schlepper wurden im Jahr 2015 in Neusiedl aufgegriffen, so viele wie in keinem anderen Bezirk.

Die Zaunteile, die überall am Areal stehen, wurden 2016 angeschafft, um für eine neuerliche Flüchtlingsbewegung gewappnet zu sein. Gebraucht wurden sie bisher kaum, auf Zuruf des Innenministers seien sie aber jederzeit einsatzbereit, heißt es von der Polizei.

71 Menschen, qualvoll erstickt

Auf der anderen Seite des Grenzareals befindet sich die veterinärmedizinische Station, wo früher Tiere untersucht wurden, die über die Grenze gebracht wurden. Der weiße Kasten, auf dessen Zufahrtstoren große rote Ziffern stehen, ist jetzt ein Lagerplatz für Waffen und ein Schlafplatz für Soldaten. Am 27. August 2015 wurden hier aus einem Lkw die Leichen von dutzenden Menschen geborgen.

Die veterinärmedizinische Station im Jahr 2020.
Foto: Christian Fischer
Die veterinärmedizinische Station im Jahr 2015.

Helmut Marban kann sich gut an den Tag erinnern. Der Pressesprecher der Landespolizei Burgenland war eigentlich mit einem Termin der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und des damaligen Landespolizeidirektors Hans Peter Doskozil (SPÖ) beschäftigt, die beiden präsentierten einen Gebäudeumbau. Um elf Uhr am Vormittag bekam er den Anruf, dass in Parndorf ein Lkw in einer Pannenbucht stehe, in dem möglicherweise Tote seien. Als er an dem Ort ankam, erzählt Marban, war ihm klar, dass Leichen im Kühllaster seien. "Es war ein heißer Tag, der Geruch hat einiges dokumentiert", sagt er. Man habe einen Ort gesucht, an dem man, ohne Spuren zu vernichten, den Lkw öffnen konnte, und sei auf die Veterinärstation gekommen, weil die gut gekühlt sei.

Medien aus aller Welt waren zu dem Zeitpunkt bereits vor Ort. Um sechs Uhr abends, so Marban, habe er die letzte Pressekonferenz beendet, nachdem er die Opferzahl im Lauf des Tages dreimal nach oben korrigieren musste: auf 71. Bis auf ein Opfer konnten alle Leichen identifiziert werden, die meisten wurden in ihre Herkunftsländer überstellt. 2019 wurden vier Täter wegen Mordes unter besonders grausamen Umständen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Blick Richtung Ungarn im Jahr 2020.
Foto: Christian Fischer
Der Blick Richtung Ungarn im Jahr 2015.
Foto: Christian Fischer

Orbáns Muskelspiel

Zurück in Nickelsdorf sitzt an einem ebenso heißen Sommertag fünf Jahre später ein Stammtisch beim Dorfwirt. Es wird Karten gespielt, Bier und Spritzer getrunken. Jeder weiß sofort, um was es gehen soll, wenn die Sprache auf das Jahr 2015 kommt. Viel gebe es dazu aber nicht zu sagen, sagt der Wirt und zapft ein Bier. Doch einer möchte dann doch darüber sprechen, wie das vor fünf Jahren war.

Schuld am Chaos, sagt Richard Pfann, sei Orbán gewesen. Der ungarische Ministerpräsident ließ in diesen Wochen immer wieder willkürlich seine Muskeln an der Grenze spielen. Als Grenzort habe Nickelsdorf immer schon Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht, sagt Pfann, während er sich eine Zigarette im Gastgarten wuzelt. Der 65-Jährige kann sich noch erinnern, als 1989 DDR-Flüchtlinge ankamen. Der Großteil des Ortes sei auch 2015 "eher aufgeschlossen" gewesen zu helfen.

Er selbst hat sich mehrere Male nach Heygeshalom aufgemacht, um den Geflüchteten zu helfen, zum Beispiel zum Dolmetschen. Pfann spricht nicht nur Englisch, sondern auch Ungarisch. Ein Erlebnis prägte ihn besonders: Im Regionalzug kam ein fünfjähriger Bub zu Pfanns Sitzplatz. Er hielt ihm drei Soletti hin, weil er dachte, er sei auch ein Flüchtling. Als Pfann daraufhin aus Rührung zu weinen begann, ging der Bub zurück zu seinem Vater. Und brachte noch fünf Soletti. "Tschuldigung", sagt Pfann, weil ihm auch jetzt, fünf Jahre später, unter der Brille Tränen die Wangen hinabrollen.

Hilfsbereitschaft und Schaulust

Auch aus Sicht der Sanitäterin Nestlinger war die Hilfsbereitschaft der örtlichen Bevölkerung sehr groß. Doch es habe auch Menschen gegeben, die bloß mit dem Auto vorbeifuhren, um sich die Flüchtlinge "anzuschauen".

Einer von denen, die nicht schauten, sondern anpackten, war Mamoun. 2013 ist er aus Syrien weggegangen, nach Monaten in der Türkei und in Griechenland, nach einer dreistündigen Bootsfahrt mit 50 anderen Leuten, nach einem siebentägigen Fußmarsch und nach 50 Tagen im Auffanglager Traiskirchen kam er Ende Juli 2015 nach Nickelsdorf.

Dina, Mouaiad, Mohamad und Mamoun leben seit 2015 in Nickelsdorf.
Foto: Christian Fischer

Was er dort nur wenige Wochen nach seiner Ankunft erlebte, war "aufregend", übersetzt Sohn Mohamad, als der Vater das Wort nicht findet. "Es waren zu viele Leute", sagt Mamoun. Also bekam er vom Bürgermeister eine Warnweste mit der Aufschrift "Nickelsdorf hilft" – und half. Er räumte den Mist weg, den die tausenden Menschen machten, die durch den Ort wanderten, und er half am Bahnhof mit, die Ordnung zu bewahren. "Ich weiß, was der Krieg bedeutet, den diese Leute gesehen haben", sagt Mamoun. Aber jetzt, sagt er, sitzend in seinem Garten, Frau Dina und die beiden Söhne um sich, ist er froh über die Ruhe, die in Nickelsdorf herrscht.

Zahl der Aufgriffe steigt wieder

Ja, die Diskussionen, ob man den Menschen helfen solle, habe es gegeben, sagt der ehemalige Zollbeamte Pammer, der nun nicht mehr am Gartenzaun steht, sondern an seinem Küchentisch sitzt, und seine Stirn legt sich in Falten. Auch in seinem Bekanntenkreis sei er auf "radikale Ablehnung" gegenüber Flüchtlingen gestoßen, oft sei es zu Diskussionen über Arbeitsmarkt und Sozialsystem gekommen.

Aber aus seiner Sicht habe man den Menschen "zuerst einmal helfen" müssen, sagt Pammer. "Was später kommt, das muss man dann sehen." Auch im Pfarrgemeinderat sei es zu einer Spaltung gekommen. Die meisten, sagt Pammer, seien aber auf seiner Seite gestanden. Verklären sollte man die Situation nicht: Er schätzt, dass im Ort etwa ein Drittel der Leute Ressentiments gegenüber Flüchtlingen hätten. In den letzten fünf Jahren seien es etwas mehr geworden.

Die Situation in Nickelsdorf entspannte sich, als sich nach sechs Wochen die Grenzübertritte nach Spielfeld verlagerten. Noch immer werden Geflüchtete in der Gegend aufgegriffen, zuletzt wieder vermehrt, sagen Staatsanwaltschaft und Polizei. Aber sie kommen nur selten über das riesige Betonareal an der Grenze.

Gleich hinter dem Feld am Nickelsdorfer Bahnhof ist eine Kläranlage, nach zwei Kilometern ist Ungarn. Dort ist kein Türl mit Seitenteilen, dort kommen immer noch Geflüchtete über die Grenze. Aber so, dass kaum jemand von den Nickelsdorfern etwas davon bemerkt. (Vanessa Gaigg, Gabriele Scherndl, 29.8.2020)