Die Autorin Sandra Gugić wurde 1976 in Wien als Tochter serbischer Zuwanderer geboren.

Foto: Dirk Skiba

Schaut man dieser Tage in die heimischen Sommerschulen für Schüler mit Förderbedarf, wuseln dort vorwiegend Kinder mit Migrationshintergrund herum. Auch die zweite Generation der bereits in Österreich Geborenen hat mit der Sprache Probleme wie die Eltern – und jene dazu schlecht bezahlte, mehrere und anstrengende Jobs. In diese Diskussion passt Sandra Gugićs Roman Zorn und Stille. Es ist zwar kein Buch über scheiternde Integration, aber der Familienroman führt deren bereits in "normalen" Zeiten vielfältige Herausforderungen eindrucksvoll vor.

Auf 240 Seiten stellt er gleich drei Generationen der Familie Banadinović vor. Azra und Sima sind die Eltern und Anfang der 1980er als Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Wien gekommen. Im Schlepptau haben sie die kleine Tochter Biljana, deren Bruder Jonas Neven wird erst hier geboren. In die andere Richtung greift die Erzählung zu den Großeltern aus, die vom Leben auf dem Land und im eigenen Unglück hart geworden sind. Kein Wunder, dass Azra und Sima nichts wie wegwollten.

Der Blick bestimmt die Erzählung, diese programmatische Einsicht stellt Gugić dem Roman voran und erzählt ihn aus drei Per spektiven. Dabei reist Zorn und Stille durch die Zeit: Die Kapitel sind je mit dem Figurenwissen von 2016, 2008, 1999 oder 2018 verfasst.

Kindheitssommer am Mond

Der meiste Raum gehört dabei Biljana. Als wir sie kennenlernen, ist sie schon 40, nennt sich Billy Bana, ist Fotokünstlerin, reist viel, unterhält eine lesbische Beziehung zu ihrer Berliner Galeristin. Sie ist gerade auf dem Weg nach Belgrad, um zusammen mit der Mutter ihren Vater zu beerdigen. In diese eher nebensächliche Rahmenhandlung bettet Gugić den Kern ihres Buches: Erinnerungen Billys an ihr Aufwachsen. In stimmungsvollen Schilderungen lässt sie etwa die Kindheitssommer bei den serbischen Großeltern aufsteigen, die ihr jedes Mal vorkommen wie eine "Mondlandung". Während der Vater vor allem bemüht ist, auf den schlaglöchrigen Straßen seinen Wagen und ganzen Stolz nicht zu demolieren, wird dem Mädchen die "eckig" klingende Muttersprache zum Verlustgeschäft. Denn in Wien pflegt die Familie in jeder Hinsicht die Anpassung. "Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unangreifbar sein vor dem Urteil der Anderen."

Sie arbeiten dafür Tag und Nacht, die Mutter als Schnitzelköchin und Putzfrau, der Vater als Gärtner. Aus dem winzigen Gemeindebau schaffen sie tatsächlich den Aufstieg. Jede Tür mehr, die man hinter sich schließen kann, ist ein Luxus. Die Kinder wiederum kommen ihrer Verantwortung nach, brav zu sein. Biljana geht aufs Gymnasium. Aber über dem Existenzkampf leidet die Aufmerksamkeit füreinander. Das integrierte Lebensmodell der Eltern von "Dankbarkeit und Tugend" wird Biljana so verhasst, dass sie mit 17 von daheim abhaut und sich Hausbesetzern anschließt.

Alles ein großes Missverständnis

Gugić wurde wie ihre Heldin 1976 als Tochter serbischer Zuwanderer geboren, allerdings bereits in Wien. Sie erzählt in einer klaren, schönen Sprache und voll leuchtender, ergreifender Details. Etwa werden die Eltern Billy jahrelang nicht wiedersehen, aber die Mutter ihr heimlich Fresspakete vor die Tür stellen und der Vater alle Zeitungsausschnitte über ihre Karriere sammeln. Billy dagegen will sich in ihrer Entscheidung, frei zu sein, nicht erschüttern lassen und wird sich erst später eingestehen, dass sie damit Menschen im Stich gelassen hat. Im Grunde handelt die Geschichte vom großen Missverständnis zweier Generationen, von denen sich die eine nach dem Ankommen sehnt und die andere nach dem Aufbruch. Der Titel Zorn und Stille spielt zudem auf zwei verschiedene Temperamente und damit auch Arten an, mit den Verletzungen des Lebens umzugehen. Etwas verloren schon sein ganzes Leben, wird Billys Bruder auf einer Reise durch Serbien verschwinden.

Migrationsliteratur wäre nur ein halb treffendes Label. So ließe sich Billys Geschichte über weite Strecken auch einfach als eine jugendliche Loslösung von den Eltern in einem sozial prekären Milieu lesen. Und Gugić vermag die seltenen Aufeinandertreffen Billys mit dem Bruder zu zärtlichen Geschwistererzählungen ganz eigener Geltung auszubauen.

Viel stärker prägt die migrantische Folie dagegen die Parts der Eltern, die die zweite Hälfte des Buches einnimmt. Sie tragen zur Verleihung der Staatsbürgerschaft ihr Hochzeitsgewand, in dem sie aussehen wie eine vergilbte Österreichflagge. Sie müssen aber feststellen, dass die Träume, die sie hatten, nicht wahr werden. Sie bleiben hier fremd. Was sie nun erreichen wollen, ist eine bessere Zukunft für ihre Kinder. In nur einem Satz lässt Gugić famos all die Ambivalenz kulminieren: Die Kinder werden "Teil einer Welt, die sich Azra entzog", geht es der Mutter durch den Kopf. Nebenbei zerfällt Jugoslawien, was den Vater erschüttert, während die Tochter seine Welt diskreditiert: Er sitze der Propaganda auf.

Herausforderungen von heute

Solche Milieuschilderungen gibt es reichlich, und sie sind die besten Stellen von Zorn und Stille. Gewiss ist die Konzentration darin Gugićs biografischem Hintergrund geschuldet. Sie teilt ihn mit einer Reihe junger deutschsprachiger Autoren, die sich in den letzten Jahren selbstbewusst mit ihren Geschichten zu Wort melden – und einen Nerv, eine Sehnsucht nach Repräsentation treffen. Erst 2019 hat Saša Stanišić mit seinem Roman Herkunft einen enormen Erfolg gefeiert. Aber so lustig wie dieser ist Zorn und Stille nicht.

Die Donnerstagsdemos gegen die ÖVP-FPÖ-Koalition 2000, die tödliche Abschiebung Marcus Omofumas oder die Ablehnung der Flüchtlinge 2015 rufen eher schlagworthaft die jüngere und oft unrühmliche Geschichte Österreichs zum Thema Migration auf. Zorn und Stille kann, obwohl in der Vergangenheit spielend, den Blick für die Herausforderungen sensibilisieren, vor denen etwa Geflüchtete heute stehen. Es ist kein historisches Buch. (Michael Wurmitzer, 28.8.2020)