Die Neandertaler bevölkertem Europa vor etwa 400.000 bis 40.000 Jahren und erlebten in diesem Zeitraum so manchen Wechsel zwischen warmen und bitterkalten Klimaphasen. Besonders eisige Phasen während der Weichsel-Kaltzeit begannen vor mehr als 60.000 Jahren und führten zu einer Verknappung der natürlichen Ressourcen, wie die Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) berichtet. Um zu überleben, mussten die Neandertaler mobiler sein als zuvor – und ihre Werkzeuge anpassen.

Die Neandertaler hatten schon lange Werkzeuge aus Holz und glasartigen Gesteinsmaterialien hergestellt, die sie zum Teil auch kombinierten, um etwa einen Speer mit einer scharfen und zugleich harten Spitze aus Stein zu versehen. Ab etwa 100.000 Jahre vor der heutigen Zeit war ihr Universalwerkzeug zum Schneiden und Schaben dann ein Messer aus Stein, bei dem der Griff bereits durch eine stumpfe Kante am Stück selber angelegt war. Solche sogenannten "Keilmesser" gab es in verschiedenen Formen.

Produktion aus Neandertalerhänden: ein einfaches Messer mit Rücken (oben rechts) und verschiedene Keilmesser aus der Zeit vor 60.000 bis 44.000 Jahren.
Foto: D. Delpiano, UNIFE

"Keilmesser sind eine Reaktion auf die hochmobile Lebensweise während der ersten Hälfte der letzten Eiszeit. Sie ermöglichten durch Nachschärfen eine lange Nutzung und waren gleichzeitig ein Universalwerkzeug – fast wie ein Schweizer Survivalmesser", sagt Thorsten Uthmeier von der FAU.

Zusammen mit Davide Delpiano von der Università degli Studi di Ferrara untersuchte er mit der digitalen Analyse von 3D-Modellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Messerformen. Die beiden Wissenschafter griffen dafür auf Artefakte aus einer der wichtigsten Neandertaler-Fundstellen in Mittel-Europa zurück, der Sesselfelsgrotte in Niederbayern. In der Grotte wurden bei Ausgrabungen über 100.000 Artefakte und unzählige Jagdbeutereste des Neandertalers gefunden.

Lange Haltbarkeit war Trumpf

"Das technische Repertoire bei der Herstellung der Keilmesser ist nicht nur ein direkter Beweis für die hohen planerischen Fähigkeiten unserer ausgestorbenen Verwandten, sondern zugleich eine strategische Reaktion auf die Einschränkungen, die ihnen durch die Widrigkeiten der Natur auferlegt wurden", sagt Uthmeier – Widrigkeiten, die den Neandertalern das sich abkühlende Klima bescherte.

Laut den Forschern ahmten die Neandertaler wahrscheinlich die Funktionalität von unifazialen – also einseitig gestalteten – Messern mit Rücken nach und entwickelten auf dieser Grundlage die auf beiden Seiten behauenen, bifazial geformten Keilmesser. Beide Messerarten – die älteren einfachen und die neu hinzukommenden, deutlich komplexeren Keilmesser – hatten offensichtlich die gleiche Funktionalität. Der wichtigste Unterschied ist die höhere Lebensdauer von Bifazial-Werkzeugen. Keilmesser repräsentieren laut den Forschern daher ein "Hightech-Konzept" für ein langlebiges, multifunktionales Werkzeug, das ohne weitere Zusatzausstattung wie etwa einem Griff aus Holz benutzt werden konnte. (red, 1. 9. 2020)