Eine sinnerfüllte Ausbildung, eine sinnerfüllte Arbeit finden – wie geht das? Und wieso ist das ein so großes Thema geworden? Der Karrierementor Othmar Hill antwortet.

"Spricht man mit Stellenwerbenden, so sind über 40 Prozent mit ihrem Beruf unzufrieden. Das ist knapp die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung! Ist das nicht zutiefst deprimierend, ja eine Schande für unsere Gesellschaft? Aber war das nicht schon immer so? Was hat sich hier geändert? Wodurch zweifeln so viele an der Sinnhaftigkeit ihres Wirkens?

Jeder Mensch hat seinen Purpose, allerdings verborgen im nichtsprachlichen Teil des Gehirns, sagt Othmar Hill. Nur ein paar Testblätter ausfüllen, das bringt’s nicht.

Bis Ende des vorigen Jahrtausends schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Vielleicht waren viele nicht überglücklich, aber man wusste, wofür es sich lohnte zu arbeiten: für die Familie, für die Freizeit, für das eigene Wohlergehen. Damals hat sich die Sinnfrage nur bedingt gestellt oder gar aufgedrängt. Um die Jahrtausendwende traten plötzlich unvorhersehbare Turbulenzen auf. Die Welt wurde "vuka": volatile Märkte, Globalisierung, permanente Informationsflut, unvorhersehbare politische Entwicklungen, persönliche Überforderung, Terrorismus, Flüchtlingsprobleme. Die Millennials wenden sich vom puren Kapitalismus allmählich ab, und sie fragen nach dem Why: wozu das Ganze?

Corona beschleunigt

Mit der Corona-Krise gibt es nun eine Art Brandbeschleuniger. Die Frage nach dem Warum wird brennend und zwingend! Viele berufliche Betätigungen werden obsolet: Wer will schon in der Waffenindustrie arbeiten oder Schweine schlachten oder Alte pflegen oder in der Politik herumstreiten oder Plastiksackerln erzeugen oder, oder, oder? So viele Tabus und No-Gos bauen sich vor uns auf. Wo gibt es nachhaltige Unternehmen, die auf lange Sicht Karrieren bieten? Welche Ausbildung muss ich jetzt absolvieren, um dann wenigstens zehn Jahre in der Branche unterzukommen? Die Orientierungslosigkeit springt einem heutzutage auf allen Ebenen entgegen. Nicht nur der einzelne Mensch braucht eine Perspektive, sondern auch Arbeitsteams benötigen autonome Bedingungen, sonst verlassen gerade die Leistungs- und Kompetenzträger das Boot. Ganze Unternehmen müssen sich fragen, wozu sie eigentlich da sind. Purpose, das Warum und Wozu schreit nach Antworten.

Tiefer als Tests

Bleiben wir beim einzelnen Menschen auf seiner Suche nach beruflicher Erfüllung: Der Weg ist ganz klar. Zunächst geht es darum, die Potenziale und mögliche Kompetenzen einer einzelnen Person gut zu definieren. Umfangreiche Fragebögen für das Persönlichkeitsprofil, die Fähigkeiten, beruflichen Interessen und Motivationen sowie wichtige Fertigkeiten zu erheben: 50 bis 60 Merkmale sind nötig, um die Einmaligkeit einer Person halbwegs zu erfassen. Durch den Vergleich mit einer großen Stichprobe ergibt sich dann ein zwar unscharfes, aber dennoch objektives Bild, das einer Karriereberatung die Basis für gelungene Anregungen bietet. Da die Eignungstests aber nicht genügend tief die Individualität erfassen können, muss in einem zweiten Schritt ein Purpose-Dialog stattfinden, in dem die Kompetenzen, die Leidenschaften und die Marktattraktivität herausgefunden werden. Die Überschneidungsmenge dieser drei Bereiche beinhaltet die berufliche Selbstdefinition des Menschen. Der Purpose jedes Menschen ist ja ohnehin vorhanden, aber gut verborgen, da er im nichtsprachlichen Teil des Gehirns lagert. Diese Einzigartigkeit wird leider so gut wie nie definiert. Und daher schließt sich der Kreis: Deswegen kann die Sinnfrage nicht beantwortet werden, bis eine solche Selbstanalyse, am besten unter Mentoring-Beistand, durchgeführt wird. (kbau, 29.8.2020)