Es ist jedes Jahr dasselbe im urbanen Frühling: Kaum wird’s vor acht Uhr früh hell, erwacht das Bärlauchfieber. Halb Wien drängt sich im Grünen Prater, rupft die langen, saftigen Pletschen ab und entdeckt den Bezug zur Natur. Dazu gibt’s jede Menge Maiglöckchenwitze und Rezepte mit Bärlauchpesto. So viel Bärlauchpesto überall.

Was für ein Glück im Unglück, dass wir die recycelten Marmeladeglasln mit dem grünen Baz anscheinend eh nicht ordentlich desinfiziert hatten. Das heißt, spätestens im Juni ist die gesamte Selfmade-Pesto-Pracht schimmlig. Aber: Jetzt ist endlich wieder genug Platz im Kühlschrank für urbanes Gemüse!

In Wien gibt es, im Verhältnis zur Gesamtfläche, so viele Grünzonen wie in nur wenigen anderen Großstädten der Welt. Und wir Bobos (und auch die, die es nie werden wollen) sind ja alle Jägerinnen und Sammlerinnen im Herzen. Außerdem ist grüne Küche total in: Wer mehr als zehn frische Kräuter, die es nicht im Supermarkt in der "Ich bin in drei Tagen hin"-Plastiktasse gibt, erkennt und benennen kann, ist die Königin im Grätzel.

Grünes Geheimnis

Gerade deshalb ist es eigentlich ein Rätsel, warum der Großstadtdschungel nach Ende der Bärlauchsaison gar so unerforscht und unbeerntet bleibt. Es gibt nämlich fast das ganze Jahr (außer im Winter, wenn nix wächst, klarerweise) ganz viel, was sich zu pflücken lohnt. Fun Fact: Fast alle Pflanzen, die rund um uns wachsen, sind essbar – und viele davon schmecken auch gut. Die Chance, in Wiens Fauna was "Falsches" zu erwischen, ist gering: Abgesehen vom vielzitierten Maiglöckchen gibt es bei uns sehr wenige wirklich gefährliche Giftpflanzen, und alle davon sind recht einfach zu identifizieren. Daumenregel: Wenn weißer Saft rauskommt, ist es nicht genießbar. Und wenn gelber Saft rauskommt, ist es wahrscheinlich Schöllkraut: gut für die Haut, schlecht für den Magen.

Aber apropos Pesto. Das ist ja eins dieser Nahrungsmittel, das den Spruch "Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile" mit Anlauf und Rückenwind bestätigt. Die zusammengemixte Kombi aus Basilikum, Knoblauch, Pinoli, Pecorino und Olivenöl ist einfach unvergleichlich … glaubt man. Denn bei näherer Betrachtung lässt sich jede der Komponenten durch Verwandtes ersetzen, ohne das Gesamterlebnis zu stören. Dekonstruiert ist Pesto Kraut, Zwiebelgewächs, Nuss, Käse, Fett. Ich habe es ausprobiert: Man kann aus jungem Gras, roher Zwiebel, Cashews, Gouda und Olivenöl ein "Pesto" machen, das Essensgäste dankbarkeitstechnisch zur Höchstform auflaufen lässt.

Aber es muss nicht Gras sein, es geht auch geschmackvoller. Hier kommt eines der köstlichsten und unterschätztesten Großstadtgewächse ins Spiel: die Gundelrebe – auch bekannt als Gundermann oder Erdefeu. Sie lebt in jeder Wiese, die nicht regelmäßig mit Unkrautvernichtungsmitteln verflucht wird. Sie stört nicht, sie ist genügsam – aber viel zu wenige Menschen wissen, dass sie eine echte Geschmacksbombe ist. Die hübschen runden Blättchen (sehen ein bissl aus wie Frauenmantel, sind aber kleiner, fester und dunkler) haben ein einzigartiges herb-räudig-holziges Aroma, das wundervoll zu Fleisch passt, als Geschmacksgeber im Salat, frittiert auf Erdäpfelpüree, oder eben als Pesto-Zutat. Lässt sich auch gut trocknen, und im (sterilisierten) Schraubglasl aufbewahren. Auch die hübschen lila Blüten lassen sich übrigens gut verwerten – aber erst nächstes Jahr im Frühling, dieser Zug ist für 2020 abgefahren.

Giersch lässt sich dünsten, fermentieren oder als Strudel- oder Palatschinkenfüllung verwenden.
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Rühr mich an

Noch so ein unterschätztes "Unkraut" ist der Giersch. Er wächst üppigst überall, wo es feuchte Wiese und ein bisschen Schatten gibt. Jede von uns hat ihn sicher beim Spazierengehen schon oft gesehen, kaum eine ist sich seiner Existenz bewusst. Er ist ein klassisches "Unkraut", ein Wegrandgewächs, quasi die U-Bahn-Zeitung der Pflanzenwelt. Dabei ist der Giersch ein wirklich köstliches Gemüse. Zwar sind die frischen Blätter im Frühling zarter und mürber, aber auch im Herbst eignet sich Giersch super als z. B. gedünstetes Gemüse, Füllung für Strudel oder Palatschinken, zum Einlegen/Fermentieren – und ja, auch fürs Pesto oder die Vienna Salsa Verde (Blätter, Zwiebel, Salz, Öl und je nach Belieben Sardellen, Kapern und/oder Peperoncini).

Eine Erwähnung verdient hier auch der Wegerich. Den gibt’s bei uns hauptsächlich als Spitz-, Breit- oder Mittlerer Wegerich, und er grünt durchgehend von Frühling bis Spätherbst. Eine Delikatesse sind die jungen Blütenstände (kann man roh essen oder einlegen wie Kapern – in Salz, Salzlake oder Essig), aber auch die Blätter sind genießbar. In feine Streifen geschnitten im Salat, zum Beispiel.

Wegerich grünt von Frühling bis Spätherbst.
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Aber auch Kräuter, die hauptsächlich im Frühjahr Saison haben, lassen sich durchaus jetzt noch ernten – wie etwa Vogelmiere, die jungen Triebe vom wilden Wein oder der Portulak. Auch Brennnessel, Löwenzahn und sogar Gänseblümchen wachsen ständig nach – haben also junge (essbare) Blätter. Und jetzt kommen wir noch einmal zum Pesto zurück: Die Samen vom Springkraut (am verbreitetsten: Impatiens noli-tangere), auch bekannt als Rührmichnichtan, werden gerade reif – und die sind mit ihrem nussigen Geschmack eine echte Delikatesse. Sammeln geht am besten mit einem über die Samenkapseln gestülpten Gefriersackerl. Bevor man sie anstupst, klarerweise :-). Und in ein paar Wochen werfen die Buchen im Lainzer Tiergarten ihre Bucheckern ab. Diese köstlichen Baumnüsse waren wegen ihres Blausäureanteils lang als giftig verpönt, mittlerweile sind sie aber rehabilitiert – ein, zwei Handvoll sind unbedenklich, mehr derisst man eh kaum. Ein Pesto aus Bucheckern und Gundelrebe ist jedenfalls wirklich köstlich – und ein Highlight, wenn man Gäste beeindrucken möchte.

Das Feigenblatt

Klimawandel ist nicht leiwand, keine Frage. Aber was uns zu Recht im Großen Sorgen macht, hat im Kleinen dann auch wieder ein paar Pluspunkte. Zum Beispiel, dass mittlerweile auch in Wien Feigenbäume wachsen, und zwar mit Verve. Was die Früchte anbelangt, braucht’s noch bissl, aber auch die Blätter können viel: Feigenblätter sind bekömmlich und haben einen wunderbaren Geschmack, sie eignen sich perfekt zum Einwickeln von Fleisch- oder Gemüsefülle, genau wie Weinblätter. Und getrocknet und gemahlen bringen Feigenblätter Farbe ins Leben: Grüner geht’s kaum, ob ins Risotto oder in den Nudelteig, da kann sich der Spinat viel abschauen.

Nicht nur die Früchte des Feigenbaums schmecken. Auch die Blätter lassen sich verarbeiten.
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Wo man Feigenbäume in Wien findet, das kann man übrigens online nachschauen. Die Web-Plattform www.mundraub.org, gegründet 2009 in Berlin, listet frei zugängliche Pflanzen mit Erntepotenzial im öffentlichen Raum auf, seit einigen Jahren auch für Wien.

Und hier finden sich wahrliche kulinarische Schätze: Neben den erwähnten Feigenbäumen (ein besonders prächtiges Exemplar steht übrigens, was für ein Bobo-Klischee, direkt am Wienzeile-Radweg beim Amtshaus Margareten) wachsen in Wien jede Menge Zwetschken, Kirschen, Kriecherln, Maulbeeren, Haselnüsse, Walnüsse und sogar Mandeln (z. B. ums Eck vom Bruno-Kreisky-Park). Einfach so, für jede, die Lust, Laune und Zeit zum Sammeln hat. Es ist wirklich ein kleines Erweckungserlebnis, wenn man erkennt, was der Grünanteil der Hauptstadt alles an Schätzen hergibt – quasi die Gegenthese zu "Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen."

Neben Maulbeeren kann man in Wien auch Kirschen, Kriecherln, Zwetschken, und andere Früchte pflücken.
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Wer Anleitung sucht fürs Selbersammeln von Kräutern, Obst und Gemüse, der muss nicht lange suchen, mittlerweile gibt es genug treffliche Literatur zum Thema. Ein paar Bücher möchte ich Ihnen aber besonders ans Herz legen. Allen voran der Klassiker Was blüht denn da? (Kosmos-Verlag) – das umfassende Kompendium aller Gewächse in Mitteleuropa sollte in keinem Haushalt fehlen. Eine zu Unrecht viel zu wenig bekannte Ergänzung ist das großartige Büchlein Wiens Pflanzenwelt, herausgegeben vom Naturhistorischen Museum: Hier findet sich eine vollständige Übersicht aller in Wien wachsenden Pflanzen, sowohl heimisch als auch "zuagroast", samt kompetenten Erläuterungen.

Pflanzen lesen

Ein weiteres Standardwerk ist natürlich die Enzyklopädie: Essbare Wildpflanzen (AT-Verlag). Nicht gerade preisgünstig, aber sehr ausführlich, und wunderschön aufbereitet obendrein. Es gibt auch diverse "Sparversionen", aber davon rate ich eher ab – wenn schon, denn schon. Als vertiefende Literatur seien weiters empfohlen das von der oben erwähnten Mundraub.org-Partie herausgegebene Geh raus! Deine Stadt ist essbar (Smarticular-Verlag), Das Wald-Kochbuch: sammeln – erleben – entdecken – genießen (Hölker-Verlag) und Wildpflanzen essen (erschienen bei Terra Lanoo). Und für die Digital Urban Natives ist natürlich die App "Picture this" ein absolutes Muss: Hinter dem wenig aussagekräftigen Titel verbirgt sich ein frappierend effektives Identifikationstool. Das Shazam für Pflanzen, sozusagen. Und wen es gar nicht freut, selber auf die Pirsch zu gehen, der kann bei Henzls Ernte in der Kettenbrückengasse vorbeischauen: Hier gibt’s Wiener Kräuter zwar nicht gratis, aber vorgesammelt – und für Kräuterhexen und -zauberer in spe werden spezielle Wanderungen angeboten. (Gini Brenner, 29.08.2020)

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