Laut einem Bericht des Insolvenzverwalters ist Wirecard mit 2,8 Milliarden Euro überschuldet.
Foto: Wirecard / Andreas Gebert

Chaos, Intransparenz und horrende Verluste – auf 359 Seiten schildert Insolvenzverwalter Michael Jaffé laut einem vorläufigen Bericht die Zustände vor dem Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters Wirecard. Und die desolate Lage, in der sich der von einem gigantischen Bilanzskandal erschütterte Konzern nun befindet, denn: Einem Schuldenberg von mehr als 3,2 Milliarden Euro steht Jaffé zufolge nur ein verwertbares Vermögen von 428 Millionen gegenüber, die Überschuldung beträgt also etwa 2,8 Milliarden Euro. An liquiden Mitteln sind gerade einmal 26,8 Millionen Euro übrig. Diese erschütternden Zahlen sind Folge einer langen Verlustserie.

Denn während auf der Wirecard-Bühne eine Schaustellertruppe um Ex-Firmenchef Markus Braun jahrelang finanzielle Lustspiele vortrug, spielten sich hinter den Kulissen längst Tragödien ab. Die von Jaffé beauftragte Beratungsgesellschaft Andersch ermittelte, was sich nach Abzug der Scheingeschäfte zutrug bei dem einst hochgejubelten Finanzdienstleister. Das Ergebnis: Von 2017 an verzeichnete Wirecard demnach stetig steigende Verluste, die sich bis ins erste Quartal dieses Jahres auf etwa 750 Millionen Euro summierten. Offiziell ausgewiesen wurden für diesen Zeitraum freilich Profite in Milliardenhöhe.

Keine Einnahmen

Nur wenige der global mehr als 50 Tochterfirmen hatten "überhaupt eigene Einnahmen", heißt es in dem Bericht. Die meisten davon seien Servicegesellschaften gewesen, die nur konzerninterne Dienste erbracht hätten. Gelebt habe der Konzern von Bankkrediten und Investorenkapital – also von fremdem Geld, das mit vollen Händen ausgegeben wurde. Vor der Insolvenz, die Ende Juni beantragt und am 25. August vom Amtsgericht München eröffnet wurde, verbrauchte Wirecard zehn Millionen Euro pro Woche. Eine sinnvolle Kostenplanung vermisst der Insolvenzverwalter.

Er kommt daher zu einem niederschmetternden Ergebnis: Die überschuldete und zahlungsunfähige Wirecard hat aus seiner Sicht keine Möglichkeit, in irgendeiner Form weitergeführt zu werden. Deswegen werde auch kein Sanierungsplan vorgelegt.

Vertrauensfrage

Bei den Aufräumarbeiten stellte sich für den Insolvenzverwalteter auch die Frage, wem bei Wirecard er noch vertrauen kann. 17 Mitarbeiter wurden demnach freigestellt, 14 Manager von Tochterfirmen weltweit abberufen, andere gaben ihre Posten freiwillig auf, heißt es über diese "Bereinigungsmaßnahmen". So musste etwa der flüchtige Ex-Vorstand Marsalek aus seinen weltweit zwölf Managerposten abberufen werden, von München über Namibia bis Dubai. Braun, der alle Anschuldigungen abstreitet, und drei weitere Ex-Manager befinden sich in Untersuchungshaft. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Im Insolvenzverfahren können Gläubiger ihre Forderungen bis zum 26. Oktober geltend machen. Zudem hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz auch Wirecard-Aktionäre aufgerufen, beim Insolvenzverwalter Schadenersatzansprüche anzumelden. Bei der nächsten Gläubigerversammlung im November gehörten die Aktionäre des Zahlungsdienstleisters "unbedingt mit an den Tisch", forderte Geschäftsführer Marc Tüngler im "Handelsblatt". Seiner Ansicht nach sollten sie sogar "als größte Gläubigergruppe im Gläubigerausschuss vertreten" sein.

Haftung gegenüber Aktionären

Auch Anlegeranwalt Lukas Aigner von der Wiener Kanzlei Aigner Lehner Zuschin+Partner empfiehlt Aktionären, Forderungen anzumelden. Sie seien zwar keine Gläubiger, aber aufgrund besonderer Umstände bestehe Haftung gegenüber Aktionären, die im Vertrauen auf unrichtige Wirtschaftsdaten zu überhöhten Preisen gekauft haben.

Zudem prüft Insolvenzverwalter Jaffé rechtliche Schritte gegen frühere Verantwortliche, vor allem gegen die beiden Österreicher Braun und Marsalek. Er denkt auch über Ansprüche gegen den Wirtschaftsprüfer von Wirecard nach, EY. Der Abschlussprüfer hatte die Bilanzen von 2011 bis 2018 testiert.

Wirecard hatte Ende Juni Insolvenz angemeldet. Zuvor hatte das Unternehmen einräumen müssen, dass in der Bilanz aufgeführte Gelder von 1,9 Milliarden Euro, die vermeintlich auf asiatischen Bankkonten lagerten, nicht auffindbar seien. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt in dem Fall. Sie geht von gewerbsmäßigem Bandenbetrug aus. (aha, red, 28.8.2020)