Hinter so manchem Gegenstand, dem in der Schnelllebigkeit des Kunstmarktbetriebs nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wird, warten Geschichten, die durchaus erzählenswert sind. Solche, die ein charakteristisches Schlaglicht auf historische Kapitel werfen und individuelle Personen aus der Anonymität hieven. Der ideelle Wert derartiger Objekte wiegt dabei höher als der monetäre, wie das Beispiel einer Zigarettenkassette zeigt.

Bei der Zigarettenkassette, die Richard Singer 1909 geschenkweise erhielt, handelt es sich um einen Entwurf von Josef Hoffmann, der in der "Wiener Werkstätte" ausgeführt wurde.
Foto: Dorotheum

Sie wurde Anfang Juli im Dorotheum versteigert. Ein formal schlichtes Behältnis mit zeittypischem Hammerschlagdekor, das einst von Josef Hoffmann entworfen und in der von ihm mitbegründeten Wiener Werkstätte (WW) aus korrosionsbeständigem Alpaka produziert worden war: zwischen 1904 und 1910 in einer Auflage von insgesamt 18 Stück, wie Anne-Katrin Rossberg, Leiterin des WW-Archivs im Museum für angewandte Kunst (Mak), auf Anfrage informiert.

Die an der Unterseite der Dose eingeschlagenen Marken verweisen auf eine Datierung von 1904/05. Die Besonderheit erschließt sich beim Öffnen über die auf der Innenseite des Deckels eingravierte Widmung: "Ihrem lieben Doctor Singer in Dankbarkeit April–Mai 1909 E.R." Eine Personalisierung, die der Verkäuflichkeit des Objekts selten zuträglich ist. Eher ein Makel, der sich den Marktusancen zufolge bei einem prominenten Namen in einen Bonus umgekehrt hätte. Das Interesse war folglich überschaubar.

Für 5120 Euro wechselte die Hoffmann-Kreation in den Warenbestand der Kunsthändler Nikolaus und Florian Kolhammer. Deren Hoffnung, das Monogramm des ursprünglichen Auftraggebers "E.R." über Archivalien im Mak zu entschlüsseln, sollte sich zerschlagen. Auch der Beschenkte lieferte keine Hinweise.

Mediziner und Sozialist

Dem Auktionskatalog zufolge handelt es sich um einen "Dr. Richard Singer". Dieser fand 2017 in der Autobiografie der Schauspielerin Adele Neuhauser (Ich war mein größter Feind, Brandstätter Verlag) Erwähnung: als zweiter Ehemann ihrer Urgroßmutter und Namenspatin Adele, die ihn "als Katholikin" und "aus Liebe freiwillig" in das "Konzentrationslager Theresienstadt" begleitet habe.

Richard Singer (1871-1942) ordinierte mehr als vier Jahrzehnte im vierten Bezirk als praktischer Vertragsarzt der Arbeiterkasse und war ein engagierter Sozialdemokrat.
Foto: DÖW

Ein tragisches Kapitel Familiengeschichte, zu dem sich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) ein Akt mit diversen Schriftstücken findet, die 1982 von einem gewissen "Prof. Schmid" übergeben worden waren: dem Schwiegersohn der Singers, dem Maler Leopold Schmid (1901–1989), der an der Akademie der bildenden Künste bei Ferdinand Andri studiert hatte. Er dürfte auch der Autor eines Dokuments sein, das den Werdegang des Mediziners und biografische Details der Familie offenbart.

Demnach vermählte sich Adele, "von Geburt jüdisch, mit 14 Jahren getauft", im Jahr 1900 mit einem Handschuhmacher aus Prag, der 1908 an Tuberkulose verstarb. 1915 heiratete sie Richard Singer, der ihrer Tochter Mathilde aus erster Ehe "ein liebevoller Vater" war, der "ihr eine gute Erziehung angedeihen ließ". Singer war der 1871 geborene Sohn eines Knopfhändlers, der im Anschluss an sein Studium bei Berühmtheiten wie Hermann Nothnagel gearbeitet hatte.

1899 erklärte er vor dem Magistrat den "Austritt aus dem mosaischen Glauben", eröffnete eine Ordination in der Schönburgstraße im vierten Wiener Gemeindebezirk. Dort betreute er "bis zu seiner Pensionierung" 1931 als praktischer Arzt einen "Rayon der Arbeiterkrankenkasse". In seiner Freizeit war er oft im Café Central anzutreffen und war, der Überlieferung nach, mit dem Schriftsteller Alfred Polgar und dem Juristen Hugo Sperber befreundet.

Berufsverbot in der NS-Zeit

Während des Ersten Weltkriegs wirkte er im Notspital in der Stiftskaserne und im Gefangenenlager Hart bei Amstetten, bis man ihn in ein Lager in die Ukraine versetzte. Im Herbst 1918 kehrte er "verhungert und abgerissen" nach Wien zurück. Neben seiner Tätigkeit als Arzt wurde er in der Sozialdemokratischen Partei aktiv, etwa als "Bezirksrat und Mitglied des Vorstandes" in Wien-Wieden.

Adele Singer (1880-1956), die Urgroßmutter der Schauspielerin Adele Neuhauser, wurde gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie überlebte.
Foto: Privatarchiv Adele Neuhauser

Seine Ehefrau Adele engagierte sich parallel für Frauenhilfsaktionen und stellt sich ehrenamtlich in den Dienst der städtischen Fürsorge. Entsprechende Dankesschreiben des einstigen Bürgermeisters Jakob Reumann und des Sozialministers Josef Resch liegen dem DÖW-Akt bei.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten bescherte beiden eine schicksalhafte Wende ihrer Lebensläufe. Obwohl Richard Singer nur noch sporadisch Patienten behandelt hatte, wurde er mit Berufsverbot belegt. Mit 1. Juli 1938 war jüdischen Ärzten die Kassenzulassung entzogen worden, mit Ende September erloschen ihre Approbationen. Selbst ihre Berufsbezeichnung durften sie nicht mehr führen.

In Ausnahmefällen konnten sie als "Krankenbehandler" tätig bleiben, skizziert Barbara Sauer, die sich an der Universität Wien intensiv mit der umfassenden historischen Aufarbeitung von Entrechtung und Verfolgung österreichischer Mediziner in der NS-Zeit beschäftigte. Die Publikation Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1938–1945 – Entrechtung, Vertreibung, Ermordung (Ilse Reiter-Zatloukal, Barbara Sauer) erscheint demnächst im Verlag der Ärztekammer.

"Meine geliebten Kinder, leider muss ich Euch mitteilen, dass unser guter Papa nicht mehr unter uns weilt …",

Richard Singer gehörte nicht zu den "Krankenbehandlern". Der Vermögensanmeldung zufolge bezog er eine monatliche Pension in der Höhe von rund 323 Reichsmark. Andere Vermögenswerte gab es nicht, sieht man von einigen Objekten "aus Metall, Schmuck, Kunstgegenständen" im Wert von 150 Reichsmark ab. Laut Sauer wurde das Ehepaar, einer Zeugenniederschrift im Opferfürsorgeakt zufolge, im Mai 1942 von der Gestapo am "Mittagstisch der Aktion Gildemeester", die eine Ausspeisung in der Wollzeile betrieb, "verhaftet".

Deportation nach Theresienstadt

Ende Juni wurden Richard "Israel" und Adele "Sara" Singer in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Der 71-Jährige gehörte zu jenen 33.000 Menschen, die an den furchtbaren Lebensbedingungen zugrunde gingen. Auf dem Totenschein vom 23. Oktober 1942 wurde als Todesursache "Enteritis – Insuff – Cordis. Darmkatarrh – Herzschwäche" vermerkt. Tatsächlich sei er elendiglich verhungert, wie seine Witwe später erzählen wird.

"Meine geliebten Kinder, leider muss ich Euch mitteilen, dass unser guter Papa nicht mehr unter uns weilt …", schrieb sie vorerst nach Wien. Die in den Jahren bis zur Befreiung des Ghettos im Mai 1945 geführte Korrespondenz liegt dem DÖW auszugsweise vor. Auf den vorfrankierten Postkarten prangte ab Frühjahr 1943 ein Zitat Joseph Goebbels: "Der Führer kennt nur Kampf, Arbeit und Sorge. Wir wollen ihm den Teil abnehmen, den wir ihm abnehmen können", hatte er bei seiner Rede ("Wollt ihr den totalen Krieg") im Berliner Sportpalast im Februar 1943 eingemahnt.

Im Schriftverkehr der Familie wurde, aufgrund drohender Zensur, Unverfängliches thematisiert. "Triffst Du auch Julie und Dunio? Richte bitte Grüße aus …", schrieb die Tochter im Februar 1944. "Onkel Dunio und Frau sind nicht hier", antwortet die Mutter. Für ihre Schwägerin und deren Ehemann war Theresienstadt nur eine Station geblieben, sie wurden im Herbst 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Adele überlebte. Über die Gräuel im Ghetto wollte sie bis zu ihrem Tod 1956 nicht einmal mit ihren Angehörigen sprechen. Die Zigarettenbox war all die Jahre im Familienbesitz verblieben. (Olga Kronsteiner, 29.8.2020)