In einer der Sommerschulgruppen in Mödling sitzen zehn Schüler aus sieben Nationen.

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Werner Marek ist eigentlich kein Mensch, der sich leicht aus der Ruhe bringen lässt – aber gerade hat er Stress. Es ist bereits Viertel nach acht, und vor dem Schultor der Volksschule Vorgartenstraße 208 im 2. Wiener Bezirk sammeln sich immer noch die Menschentrauben. Eltern suchen auf einer Tafel die Namen ihrer Kinder, jeder hat Fragen, manche haben die Teilnahmebestätigung vergessen, andere stehen vor der falschen Schule. "Ich habe hier etwa zwanzig Schüler, die gar nicht auf der Liste stehen", sagt Marek. Normalerweise unterrichtet der Lehrer an einer anderen Wiener Volksschule, aber an diesem heißen Montag im August hat er seine Ferien freiwillig zwei Wochen früher beendet und ist nun Leiter der Sommerschule hier im Zweiten.

Plötzlich Lehrer

Was hier stattfindet, ist ein Experiment – und wie alle Experimente läuft auch dieses natürlich nicht auf Anhieb reibungslos. Fast ein Viertel des Schuljahrs ist für Kinder und Jugendliche durch den Corona-Lockdown verloren gegangen. Es wird befürchtet, dass die unterrichtsfreie Zeit zu erheblichen Lernrückständen geführt hat. Aufgefangen werden soll das durch Sommerschulen. Erstmals findet deshalb an 500 ausgewählten Volksschulen, Neuen Mittelschulen und AHS-Unterstufen in ganz Österreich Förderunterricht mit Schwerpunkt Deutsch statt. In Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ist die erste Woche bereits geschafft. Die restlichen Bundesländer starten am kommenden Montag. 24.000 Kinder und Jugendliche mit Aufholbedarf haben sich angemeldet.

Werner Marek reibt sich die Stirn. Er geht die Anwesenheitslisten durch. 60 von 160 angemeldeten Schülern sind nicht erschienen, er wird sie im Lauf des Montags durchrufen. Mit Erfolg: Am nächsten Tag sind fast alle da. Manche hatten den Schulstart schlicht vergessen oder eine falsche Adresse notiert.

"Während der Schulschließungen sind etliche Kinder auf der Strecke geblieben, viele hatten keinen Computer oder einen Drucker zu Hause", sagt Hannah Debono, die Lehramt studiert und lernschwachen Kindern Nachhilfe gibt. Die 25-Jährige hat sich als Lehrerin für die Sommerschule gemeldet, weil ihr die Kinder leidtun. Und weil sie das Projekt gut findet. Nach fünf Semestern Studium unterrichtet sie nun in der Sommerschule 17 Kinder im Alter zwischen neun und zehn Jahren – ganz alleine.

Kaum Budget

Ursprünglich war das anders geplant: Die 1.400 Studenten, die sich als Sommerschullehrer gemeldet hatten, sollten zu zweit oder im Tandem mit einem Pädagogen unterrichten. Aufgrund der hohen Nachfrage und des Personalmangels ging sich das aber nicht überall aus. "Erst Mitte Juli wurde ich dann vor vollendete Tatsachen gestellt", sagt Debono. Geld bekommt sie für die zwei Wochen nicht, sie kann sich lediglich fünf ECTS-Punkte für ihr Studium anrechnen lassen.

Nicht nur die Lehrer sind für die Kinder in diesen zwei Wochen neu, auch die Mitschüler, viele kommen aus unterschiedlichen Schulen. Zunächst steht also spielerisches Kennenlernen auf dem Programm: Wer bin ich? Woher komme ich? Welche Hobbys habe ich? Die Kinder freuen sich, in der Schule zu sein, das sieht man. Zu Hause sei es urlangweilig gewesen, erzählt ein Mädchen im Sitzkreis.

Der Unterricht findet von 8 bis 12 Uhr statt – ist aber nicht mit einem regulären Schulunterricht zu vergleichen. Es gibt keine Hausaufgaben oder Tests. Stattdessen steht Projektarbeit in Kleingruppen auf dem Programm: ein Video, ein Plakat oder ein Theaterstück. Dafür wurde in Wien ein Budget von 2,70 Euro pro Schüler freigegeben. Ein lächerlicher Betrag, kritisiert einer der Lehrer. Es sei typisch, dass für ein so wichtiges Projekt nicht mehr Geld lockergemacht werde. Die Lehrer und Studenten hätten deshalb selbst Malsachen gekauft, Dinge zu Hause gebastelt. "Daran erkennt man das Engagement jedes Einzelnen, der hier teilnimmt", sagt Marek, der als Sommerschulleiter selbst nur 250 Euro verdient. "Die Kollegen sind hier, weil sie die Kinder gern haben."

Dann zeigt er eine selbstgebastelte Karte, darauf ein Zitat: "Der Lehrer streut den Samen für Pflanzen des Wissens, welche ein Leben lang wachsen, blühen und Früchte tragen." Den Spruch hat er den Sommerschulkollegen am ersten Tag geschenkt. Um zu vermitteln, dass ihre Arbeit wichtig ist.

Neues Lehrer-Image

Auch in der Europa-Sport-Mittelschule (ESM) in Mödling lebt das Projekt Sommerschule vom Engagement der Lehrer. "Wir haben nicht einen Euro für Projektmaterial bekommen", sagt die Leiterin Silvia Kandler. Das regt sie aber nicht auf. Zumindest nicht mehr. Als Lehrer sei man es schließlich längst gewöhnt, zusätzliches Unterrichtsmaterial aus eigener Tasche zu bezahlen.

Kandler will hier etwas beweisen: "Wir Lehrer werden immer als die Faulen hingestellt, die eh nur Ferien machen." Das ärgert sie immens. Der Lockdown sei mit irrsinnigem Arbeitsaufwand verbunden gewesen. E-Learning, Unterlagen vorbereiten, Unterlagen einholen, Unterlagen zurücksenden. Dazu ganztägige Erreichbarkeit für besorgte Eltern. Klar hätten sich manche auch nicht so engagiert. Aber über schwarze Schafe werde immer lauter berichtet als über diejenigen, die sich ins Zeug hauen. Sie sieht die Sommerschule als eine gute Möglichkeit, das Image der Lehrer zu verbessern.

Eine der Pädagoginnen hat sich drei Tage vor dem Schulstart ein Kreuzband gerissen. Sie ist dennoch gekommen, mit Krücken. "Ich wollte die Kinder und meine Kollegen nicht hängen lassen", sagt Ursula Wimmer. Im Tandem-Unterricht mit einer Studentin sei das auch kein Problem. "Ob ich nun daheim oder in der Schule sitze, ist auch schon wurscht." Sie genießt den Unterricht mit nur zehn Schülern: "Das wäre der Idealzustand. In homogenen Kleingruppen erhalten die Kinder wirklich die Förderung, die sie verdienen." Was sie schade findet: dass es nur für Deutsch und nicht auch für andere Fächer wie etwa Mathe ein so tolles Angebot gibt. Viele Eltern hätten danach gefragt, sagt sie. Und waren enttäuscht, weil es für ihre Kinder keine "kostenlose Nachhilfe in den Ferien" gibt.

Drei Tage vor dem Start der Sommerschule passierte ein Unfall. Ursula Wimmer (59) steht trotz Kreuzbandrisses in der Klasse.
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Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) äußert sich dazu noch vorsichtig: "Wir schauen uns an, wie die Sommerschule in diesem Jahr läuft. Die Evaluierung des Projekts wird zeigen, ob wir die Sommerschule auch in den kommenden Jahren weiterführen und gegebenenfalls auf weitere Fächer ausweiten."

Startvorteil

Was auffällt: Das Sommerschulen-Lehrpersonal in Mödling besteht ausschließlich aus Frauen. Mittendrin: Kim Lercher, 17, jetzt in der Oberstufe, vor drei Jahren selbst Schülerin der EMS Mödling. Sie steht jüngeren Schülern als "Buddy" zur Seite, ist eine Ansprechperson auf Augenhöhe. Und verzichtet dafür auf ihre restlichen Sommerferien. "Der Unterricht findet ja nur am Vormittag statt", sagt sie. Kim wechselt während des Unterrichts zwischen den vier Gruppen hin und her, beantwortet Fragen und beaufsichtigt, wenn eine Lehrerin aufs Klo muss. "Ich möchte nicht unbedingt Lehrerin werden", sagt Kim. "Ich finde es einfach richtig, hier zu helfen."

Kim Lercher (17) verzichtet auf die letzten beiden Wochen Sommerferien, um jüngeren Schülern als "Buddy" zur Seite zu stehen.
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Von den 46 Schülern, die in Mödling derzeit unterrichtet werden, haben nicht alle einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen sind Österreicher, die sich in Deutsch verbessern wollen. "Das hier ist kein reines Betreuungsprogramm," betont Sommerschulleiterin Silvia Kandler. Es gibt Leseübungen, Diktate, Grammatik-Übungen, aber auch Zeit für Spiele zwischendurch. Gerade Sprache kann im Spiel am schnellsten erlernt werden. Dafür haben sich die Lehrer und Studenten im Team Projekte überlegt. Eine Gruppe will am Ende eine Bewerbungsmappe erstellen, die andere präsentiert ein Märchenbuch.

Ob die Kinder in den zwei Wochen wirklich ihre Deutschkenntnisse nachhaltig verbessern können? In Mödling ist man sich sicher, dass das klappen kann.

In der Wiener Volksschule betrachten es die Lehrer skeptischer. In zwei Wochen mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen Kinder mit rudimentären Deutschkenntnissen nachzuholen, was in den letzten Monaten verpasst wurde? Das geht sich nicht aus.

Hier will man etwas anderes erreichen: Die Kinder sollen mit einem positiven Gefühl ins neue Schuljahr rutschen – eventuell mit dem Bild, dass Schule etwas Schönes sein kann. Sommerschulen bieten vielleicht etwas, was im restlichen Jahr oft auf der Strecke bleibt: Spaß am Lernen, ganz ohne Druck.

Damit schenkt die Sommerschule jenen Kindern, denen im letzten halben Jahr besonders viel Förderung gefehlt hat, etwas: zwei Wochen Extrazeit, um wieder in den Schulrhythmus reinzuwachsen – und in die deutsche Sprache. Lehramtsstudentin Hannah Debono: "Wir geben den Kindern eine Vorbereitung auf ein Wettrennen. Indem wir ein paar Aufwärmübungen machen und schon mal die erste Runde laufen." Im besten Fall wird das zum Startvorteil. (Nadja Kupsa, 28.8.2020)