Am 4. September 2015, einem Freitag, saßen wir in der Redaktion und machten die Wochenendausgabe fertig. Aber da erhob eine neue Realität ihr hässliches Haupt, und wir sahen die Bilder von den tausenden Flüchtlingen, die über die ungarische Autobahn in Richtung burgenländischer Grenze marschierten. Der ungarische Autokrat Viktor Orbán hatte sie praktisch hinausgeschmissen und freundlicherweise zu uns in Marsch gesetzt. Am nächsten Tag fuhr ich auf den Westbahnhof, wo inzwischen Züge aus Ungarn mit neuen Flüchtlingen angekommen waren, beobachtete das Gewirr aus syrischen und irakischen Arabern und Kurden und die gut funktionierende Arbeit der Hilfsorganisationen.

Der erste Eindruck damals war: Das wird heftig, aber für ein reiches, wohlorganisiertes Europa und Österreich müsste das zu bewältigen sein. Heute ist ein zwiespältiges Fazit zu ziehen: Die Krise selbst wurde rein technisch ganz gut bewältigt, Österreich hat auch keine wirklichen materiellen Probleme dadurch bekommen; die politisch-psychologischen Folgen sind etwas anderes.

Flüchtlinge 2015 am Grenzübergang Nickelsdorf im Burgenland.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Abgezeichnet hatte sich die Situation schon im Sommer. Auf die griechischen Inseln nahe der türkischen Küste kam ein steter Strom von Flüchtlingen – ein paar Kilometer übers offene Meer, in überfüllten Schlauchbooten. Solange die türkischen Behörden die Boote starten ließen, war da nichts mit "Route schließen" (außer mit Gewaltanwendung).

In Österreich wuchs der Ansturm massiv an, auch an der Südgrenze. Er wurde recht und schlecht bewältigt, eher schlecht von einer völlig überforderten Lagerleitung in Traiskirchen, eher recht von zehntausenden Freiwilligen, von denen viele christlich motiviert waren.

Rückschlag

Gerettet wurde die damalige Regierung Faymann-Spindelegger durch die Entscheidung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, ohne weiteres hunderttausende Flüchtlinge zu übernehmen ("wir schaffen das"). Zwar erzeugten die Bilder von hunderten jungen Männern, die einfach ein paar hilflose Polizisten an der österreichischen Südgrenze beiseiteschoben, einen schweren Vertrauensverlust der österreichischen Bevölkerung, aber die realen Auswirkungen des "Ansturms" waren nicht besonders dramatisch.

Einen schweren psychologischen Rückschlag erhielt die Solidarität mit den syrischen und irakischen Kriegsflüchtlingen in der Silvesternacht 2015, als es in Köln zu etwa 600 sexuellen Übergriffen durch meist arabische junge Männer kam (von denen die wenigsten Flüchtlinge waren).

Im Februar 2016 erreichte Außenminister Sebastian Kurz, der immer schon gegen Flüchtlingshilfe war, in Verfolgung einer Initiative von Orbán zumindest vorläufig die "Schließung der Balkanroute", indem er Mazedonien dabei unterstützte, die Grenze zu Griechenland abzudichten. Dieser Erfolg wäre wegen der nachdrängenden Massen über die Ägäis nur von kurzer Dauer (und auf Kosten Griechenlands) gewesen, hätte nicht Merkel mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Deal geschlossen: Die Türkei hindert die Flüchtlinge am Weiterziehen und bekommt dafür Milliarden von der EU.

Von da an ging der Zustrom stark zurück. Wobei sich in der späteren Phase der Fluchtbewegung unter die Syrer und Iraker noch sehr viele Afghanen mischten, die die Gelegenheit ergriffen. Heute leben aus dieser Fluchtbewegung rund 125.000 Flüchtlinge mit Asylstatus unter uns, davon 51.000 Syrer, 44.000 Afghanen, 14.000 Iraker und 15.000 Iraner.

Was hat das in unserem Land verändert? Davon demnächst mehr. (Hans Rauscher, 29.8.2020)