Als Parteivorsitzende kommt die frühere Gesundheitsministerin nicht vom Fleck. Aber die SPÖ hat sich schon im Wendejahr 2000 Probleme eingehandelt, die bis heute wirken, so Kulturwissenschafter Christoph Landerer im Gastkommentar.

Difficile est satiram non scribere – schwer ist es, keine Satire zu schreiben. Hätte Christian Kern die Nationalratswahl 2017 gewonnen, dann wäre Pamela Rendi-Wagner heute wohl Gesundheitsministerin, könnte als anerkannte Expertin für Infektionsepidemiologie die Corona-Politik der Bundesregierung koordinieren und sich auf diese Weise behutsam auf eine Führungsrolle in der Partei vorbereiten. Wer das Sommergespräch mit Simone Stribl verfolgt hat, wird die SPÖ-Chefin in der Corona-Materie wahrscheinlich am trittsichersten und sattelfestesten erlebt haben.

Doch bekanntlich kam es anders, und als Parteivorsitzende kommt die vormalige Gesundheitsministerin nicht vom Fleck. Zwar liegen sowohl Rendi-Wagner als auch die SPÖ in der Sonntags- wie der Parteivorsitzfrage stabil auf Platz zwei – gemessen an den Werten des letzten halben Jahres ein klarer Fortschritt –, doch der Abstand auf Sebastian Kurz und dessen ÖVP ist mittelfristig uneinholbar. Die aktuell erhobenen 21 Prozent für die SPÖ entsprechen dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer Geschichte 2019; die ÖVP dagegen liegt – trotz demoskopischer Verluste – mit aktuell 41 Prozent nahe am triumphalen Wahlsieg von Wolfgang Schüssel 2002 (42,3 Prozent).

Firm bei Gesundheitsthemen, aber zögerlich, wenn es um Machtfragen geht: SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Mit Empathie punkten

Verglichen mit dem kühl und distanziert wirkenden Kurz könnte Rendi-Wagner – wie Jacinda Ardern in Neuseeland oder Mette Frederiksen in Dänemark – mit Empathie punkten. Doch Empathie alleine ist keine Führungsqualität, und Ardern wie Frederiksen verfügen über ein zusätzliches Asset, das Rendi-Wagner nicht ausspielen kann: Sie führen keinen Abwehrkampf an der rechten Flanke der Partei. Ihr Konzept ist vielmehr eine Umarmungsstrategie, die die Politik von Kurz in kleinerem Maßstab kopiert: Frederiksen durch eine thematische Rechtsverschiebung der dänischen Sozialdemokratie, Ardern durch die Koalition mit der rechtspopulistischen Partei "New Zealand First".

Die Politik von Ardern und Frederiksen entspricht im Kern der klassischen Strategie der SPÖ während ihrer stabilen Kanzlerperiode 1970 bis 1999, als "rechte" Themen partiell inkorporiert und von der Partei mitvertreten wurden, um die Wählerbasis zu vergrößern – mit harten Maßnahmen gegen ausländische Arbeitnehmer nach der Ölkrise 1973, aber auch einer Annäherung an spezifischere Anliegen der FPÖ, die Bruno Kreisky als Koalitionsreserve aufbaute. Der Kurs wurde unter seinen Nachfolgern nicht dramatisch adaptiert, das Innenressort blieb Erbpacht des rechten Flügels der Partei. Caspar Einem, die einzige Ausnahme von diesem Prinzip, wurde nach knapp zwei Jahren in einem anderen Ressort verräumt.

Offener Flügelkonflikt

Da die SPÖ ab 1986 gleichzeitig ihre Strategie gegenüber der FPÖ änderte, wuchs die Spannung innerhalb der Partei, bis sich die Konflikte nicht mehr auf die übliche Weise lösen ließen. Die SPÖ mobilisiert nun gegen Jörg Haider, verschärft aber gleichzeitig das Ausländerrecht. Kronprinz Karl Schlögl, als Vertreter des klassischen Kurses zur Viktor-Klima-Nachfolge bestimmt, kann sich innerparteilich nicht mehr durchsetzen, auch Einem, Aushängeschild des linken Flügels, bekommt keine ausreichende Unterstützung. Als Kompromisskandidat wird Anfang 2000 Alfred Gusenbauer gewählt – ohne dass der Lagerkonflikt entschieden wird.

Im Wendejahr 2000 verschärft die SPÖ ihren Kurs – auch in der Hoffnung auf einen Bruch der schwarz-blauen Koalition, die unter europäischer und internationaler Beobachtung steht. Die zugespitzte Auseinandersetzung führt zu einer thematischen Überabgrenzung gegenüber der FPÖ und zur Stärkung der ÖVP, die 2002 in großem Stil von der Implosion des kleineren Partners profitiert. Um innerparteilichen Kontroversen aus dem Weg zu gehen, strebt die SPÖ nun auch das Innenressort, das sie vor 2000 ganze drei Jahrzehnte hindurch besetzte, nicht mehr an und überlässt es der ÖVP. Da der Flügelkonflikt aber weiter schwelt, entsteht eine offene Flanke in der Partei, die ein geschickter Stratege wie Kurz unter der besonderen historischen Konstellation der Flüchtlingskrise 2015/16 für sich nutzen kann. Kurz kapert zentrale Themen der FPÖ; die Umfragen wirken, als hätte jemand im Mai 2017 einen Kippschalter umgelegt. Die SPÖ, strategisch wie thematisch unvorbereitet, sieht dem Spektakel zu und verweilt bis heute auf den Rängen.

Gespür für Macht

Doch die Partei hat ein weiteres Problem, das sie sich ebenfalls im Wendejahr 2000 einhandelt. Gusenbauer ist der erste Regierungsamateur, den die SPÖ ins Kanzleramt schickt. Kreisky, Fred Sinowatz, Franz Vranitzky, Klima hatten mehrjährige Ministererfahrung, bevor sie Kanzler wurden, auch Schlögl und Einem hätten dieses Kriterium erfüllt. Gusenbauer gibt nach eineinhalb Jahren Kanzlerschaft auf, Kern – wie Gusenbauer ohne jede Regierungserfahrung – bleibt nur einen Monat länger im Amt. Werner Faymann, farblos und uncharismatisch, aber ein begabter Techniker der Macht mit klassischer Ministerkarriere, hält sich dagegen fast acht Jahre im Sattel. Mit sieben Monaten Regierungserfahrung und praktisch keinerlei Kenntnis der Partei ist auch Rendi-Wagner von Beginn weg ein Leichtgewicht, vor allem im direkten Vergleich mit Kurz. Der türkise Bundeskanzler brachte es auf mehr als sechs Jahre Minister und Staatssekretär, Schüssel sogar auf ganze elf.

Die SPÖ-Chefin ist so auch der Endpunkt einer Entwicklung, in der sich die Selektionsmechanismen innerhalb der Partei entprofessionalisieren, während die ÖVP, zu konservativ für Neuerungen und mit einem sehr traditionellen Gespür für Macht, jedes Experiment vermeidet. Doch mangels Alternativen bleibt die SPÖ an Rendi-Wagner gebunden – und damit, personell wie programmatisch, an ein Experiment mit offenem Ausgang. (Christoph Landerer, 29.8.2020)