"Ich bin ein Dissident des Geschlechts", sagt der Philosoph Paul B. Preciado über sich selbst – und kämpft für eine Welt, die binäres Denken überwindet. Sein Buch "Kontrasexuelles Manifest" ist zu einem Schlüsselwerk des Queer- und Transaktivismus geworden. Er war Kurator der Documenta 14.

Foto: Catherie Opie/Suhrkamp

Zwischen 2013 und 2018 schrieb Paul B. Preciado Kolumen für die französische Zeitung Libération. Diese lesen sich wie eine faszinierende Mischung aus politischen Kurztraktaten, philosophischen Miniaturen, Reise- und Tagebucheinträgen. Genau während dieser Zeit änderte Preciado sein Geschlecht, aus Beatriz wurde Paul, wobei er den Bruch jedweder Identität vorzieht. Preciados Gendermigration dient ihm als Fluchtpunkt, von dem aus er die Turbulenzen in Europa ins Auge fasst – die Migrationskrise und die Folgen der Austeritätspolitik – und eine radikale Neuausrichtung der Menschheit einfordert.

Zum Buch vereint, sind die in ihrer Radikalität schillernden Texte nun bei Suhrkamp unter dem Titel Ein Apartment auf dem Uranus erschienen. Ein Telefongespräch mit dem Aktivisten und Philosophen, der gerade in Barcelona an einem neuen Buch arbeitet.

STANDARD: In einem Text, der sich bereits mit Corona beschäftigt, bezeichnen Sie das Virus als das "Andere" – als etwas, das unsere Körper zur neuen Demarkationslinie macht. Was hat die Pandemie in Ihren Augen mit der Migrationspolitik zu tun?

Preciado: Mir ging es um keinen Vergleich, das wäre obszön. Vielmehr wollte ich sagen, dass die Politik in beiden Fällen innerhalb desselben biopolitischen Regimes operiert. Unser Verhältnis zu dem, was uns unbekannt und fremd ist, dem "Anderen", wird mit denselben biopolitischen Regeln reguliert. Es gab mithin schon ein virales Verständnis von Migration, bevor uns das Virus erreicht hat. Wir vergessen leicht, dass wir in Europa als weiße Körper mit Pässen solchen Regulierungen nicht primär ausgesetzt sind. Wesentlich an der Pandemie ist nun jedoch, dass sich diese Techniken der Begrenzung nicht mehr nur auf das Mittelmeer richten, sondern radikal geschrumpft sind – bis zu unserer Haut. Es steht nicht länger nur der nichtweiße Körper auf dem Spiel, sondern jener gealterte Körper, der schlechthin als der souveräne Bürger der westlichen Welt galt.

STANDARD: Verzichten wir im Ausnahmezustand zu leichtfertig auf unsere Bürgerrechte, wenn wir uns diesen Regeln fügen?

Preciado: Ich bin selbst erkrankt, hatte zehn Tage lang hohes Fieber, und als ich wieder erwachte, erschien alles, was ich über die Regulierung des biopolitischen Körpers verfasst hatte, plötzlich seltsam "klick" zu machen. In der Politik wurden vor allem zwei konträre Theorien des Virus angezapft: das Virus als Entität, gegen die man mit allen Mitteln ankämpfen muss. Das ist die am weitesten verbreitete Theorie, das Virus wird zum Feind, gegen den soziale Armeen in Stellung gebracht werden. Es gibt aber noch eine zweite, gegenwärtigere Theorie mit biochemischem Hintergrund: Da ist das Virus weniger etwas, gegen das man ankämpft, sondern es wird zu etwas, womit man kommuniziert. Wenn wir Antikörper entwickeln, ist das auch ein Dialog, das Virus gerät zur Information.

STANDARD: Wir suchen also noch nach der geeigneten Sprache?

Preaciado: Ja, es ist ein kybernetisches Modell, was zwangsläufig bedeutet, dass wir Modelle finden müssen, um mit dieser Entität zu kommunizieren. Mit dem großen Problem, dass nicht jedes Leben unter denselben Bedingungen gelebt werden kann.

STANDARD: Sie haben auch über die Veränderung der Arbeitswelt geschrieben – das Virus hat viele von uns ins Homeoffice verschoben. Ein Pionier dieser Arbeitsweise ist für Sie ausgerechnet der "Playboy"-Gründer Hugh Hefner, warum?

Preciado: Der Playboy wird von vielen als semipornografisches Magazin betrachtet, aber als ich mich mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den 1950er-Jahren beschäftigte, war ich überrascht, welche Bedeutung es für das hat, was ich als eine neue Subjektivität bezeichne. In den 50ern vollzieht sich ein entscheidender Übergang; Strafe, Disziplin und Kontrolle werden durch die Produktion von Lust und Vergnügen abgelöst. An die Stelle des Verbots von Pornografie tritt die Promotion derselben. Dafür steht im massenmedialen Sinne auch Playboy. Das biopolitische Regime des 19. Jahrhunderts war institutionell, es gab externe Architekturen, die man betreten musste, um zum Subjekt zu werden – wie der Arbeiter die Fabrik. Von den institutionellen Räumen verlagert sich nun vieles in einen privateren Raum.

STANDARD: Analog zum Aufstieg des Fernsehens mit einer neuen Konsumgesellschaft?

Preciado: Ja, der häusliche Bereich wird an das elektronische Regime angebunden. Die Avantgarde bildet dahingehend Hugh Hefner, der sich als Milliardär dazu entschließt, eingeschlossen in seiner Playboy-Mansion zu leben. In gewisser Weise hat er einen völlig neuen Weg gefunden, um die Produktion von Kapital zu promoten. Er hat die gesamte Playboy-Produktion quasi aus seinem sich drehenden Bett geleitet. Hier findet man einige Elemente, die auch unsere Gegenwart bestimmen: Kameras zeichneten 24 Stunden am Tag seinen Raum und den der Playmates auf. Das Material gelangte auch ins Magazin – das ist in Zeiten von Instagram und anderen sozialen Medien nun auch unsere Realität, die Produktion von Kapital und Subjektivität ist längst ins Private vorgedrungen. Corona hat diesen Zustand eines elektronischen Work-Homes nun zum Normalzustand werden lassen.

STANDARD: Die Pandemie wirkt auf mehreren Ebenen beschleunigend?

Preciado: Wir erleben einen immensen gesellschaftlichen Umbruch. Der Zustand des Lockdowns aufgrund einer Krise wird wohl noch öfters eintreten, weil wir uns in der Ära einer Ablöse bewegen, zu der auch der Klimawandel gehört. Diese Entwicklungen sind miteinander verschränkt, das Virus steht in engem Zusammenhang damit, wie das patriarchal-kapitalistische Regime das Klima zerstört hat. Wir müssen neue, kollektive Techniken des Regierens erfinden.

STANDARD: Sie schreiben, wir hätten zu lange "auf Kapital und Beherrschung" anstatt "auf Kooperation und Mutation" gesetzt, und fordern eine "artenübergreifende Allianz". Eine reizvolle Idee, aber wie lässt sich das realisieren?

Preciado: Die Revolution ist schon im Gange. Kurz vor Ausbruch des Virus haben wir noch einen Aufstand mit feministischer Ausrichtung erlebt. Feministische, antirassistische, Indignados-, Queer- oder Transbewegungen sind natürlich heterogen, manche haben auch etwas politisch Konservatives an sich. Aber all dies sind Politiken der Reproduktion, die bereits den Widerstand eines Körpers in sich tragen: von Körpern, die Objekte von extremer Gewalt waren. Deswegen muss man sich diese Traditionen ansehen. Es ist wesentlich, ein anderes Narrativ zu entwerfen, weg vom neoliberalen Narrativ des passiven Konsumenten, der nur Angst und Ablehnung kennt.

STANDARD: Das wäre auch die Ausrichtung von Black Lives Matter. Reformen, die keine grundlegende Veränderung bringen, werden allerdings wohl nicht genügen.

Preciado: Wir können uns zwischen Krieg, Unterwerfung und Revolution entscheiden. Ich sehe keinen anderen Weg. Die Mainstreampolitik wird versuchen, mit einer endlosen Reform das patriarchal-kapitalistische Regime zu retten. Aber die Vulnerabilität des Lebens ist auf verschiedenen Ebenen zu groß. Ich sage das von keinem ideologischen Standpunkt aus, sondern mehr wie ein Architekt, der auf ein Gebäude blickt: Es sieht so aus, als würde es einstürzen.

STANDARD: Sieht es an vielen Orten der Welt nicht ganz anders aus? Wie verhält sich diese Beobachtung zum Trend der politischen Restauration, zu Rechtspopulismus und Genderhass?

Preciado: Ja, absolut. Aber ich verweise auf das 15. und 16. Jahrhundert – was Sie wohl nicht erwarten. Ich blicke immer zurück, um zu verstehen, was gegenwärtig gerade passiert. Auch damals gab es eine epistemische Verschiebung wie jetzt. Es war der Beginn der Kolonialisierung, die Druckerpresse wurde erfunden, auch die Säkularisierung des theologischen Wissens und ein wissenschaftlicher Diskurs begannen. In den von Ihnen angesprochenen Momenten erleben wir die Kristallisierung des Alten, ein übertrieben-fanatisches Extrem des vorherigen Paradigmas. Galileo musste bekanntlich Abbitte leisten, sonst wäre er gestorben.

STANDARD: Nur ein allerletztes Aufbäumen?

Preciado: Es handelt sich um Positionen, die im Grunde bereits lächerlich erscheinen, was den Fanatismus anbelangt, diese äußerste Affirmation von weißer Vorherrschaft, der Natürlichkeit von Heterosexualität etc. Fraglos generiert dies auch ungeheuerliche Gewalt, insofern ist es schwierig, damit umzugehen. Nichtsdestoweniger bin ich davon überzeugt, dass wir uns in Richtung einer nichtbinären, nichtrassischen Epistemologie des Körpers bewegen. Es kann, wie im 16. Jahrhundert, mehr als 120 Jahre dauern. Das wäre allerdings schade, denn dann werde ich alles, wofür ich kämpfe, gar nicht mehr erleben. (Dominik Kamalzadeh, 29.8.2020)