In Berlin kam es am Wochenende zu Protesten von Gegnern der Corona-Beschränkungen. Verschiedenste Gruppierungen und gesellschaftliche Strömungen hatten sich formiert, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Es wäre nun ein Leichtes, alle Teilnehmer in einen Topf der Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Reichsbürger und Aluhutträger zu werfen. Doch wie so oft ist die Realität komplexer, als so manche Blitzdiagnose oder Klassifikation. Insgesamt hätten in Berlin am Samstag bis zu 38.000 Menschen demonstriert. Eine durchaus signifikante Anzahl an Menschen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf die Straße gegangen sind, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Alle Demonstranten als Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker abzutun ist ein bisschen zu einfach und demokratiepolitisch höchst bedenklich.

Politik der Empathielosigkeit und sozialen Inkompetenz  

Eine gewachsene Demokratie muss derartige Phänomene aushalten und nicht nur das. Sie muss versuchen ihre Bürger wieder in den Prozess der Mitbestimmung einzubinden und hier geht es um ein passendes Emotionsmanagement. Die etablierten Parteien schaffen es nicht mehr diese Zielgruppen anzusprechen. Keine Spur von Empathie und menschlich-politischer Reife, um auf die Bedürfnisse und - wenn auch manchmal diffusen - Ängste der Menschen einzugehen. Besonders frappierend ist in diesem Zusammenhang das Verhalten der Sozialdemokraten in Deutschland, die sich anscheinend immer mehr zur Intoleranzpartei entwickeln. Anstatt den Dialog mit den Demonstranten zu suchen, wie dies einst Bruno Kreisky bei der intendierten Inbetriebnahme des Atomreaktors in Zwentendorf mit seinen Kritikern tat, stigmatisiert der SPD-Politiker und Berliner Innensenator Andreas Geisel unbewusst alle an der Demo Partizipierenden, indem er festhält, dass bis zu 3.000 "Reichsbürger und Extremisten" demonstrieren würden.

Somit stellt er die Aktion ins rechte Schmuddeleck, das Problem ist gelöst und die AfD in Deutschland sowie die FPÖ und das Team HC Strache reiben sich die Hände. Hier kann man Kreisky erneut überstrapazieren, der im Ortstafelkonflikt in Kärnten, trotz des mehr als aufkeimenden Antisemitismus gegenüber seiner Person, in weiser Voraussicht bewusst den Ball flach hielt, um die einst angespannte Lage nicht noch mehr zu befeuern. Er hätte mehr als einen Grund gehabt, um seine Kritiker in ein politisches Eck zu stellen, aber soziale Intelligenz siegt. Rasches empathisches Handeln ist in Zeiten des immensen gesellschaftlichen Wandels gefragt und kein Einbunkern in bürokratischen Apparaten oder Verstecken hinter Gesetzen und Verordnungen, denn bei zunehmenden ökonomischen Spannungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt werden die Systemkritiker immer mehr werden.

Demonstranten gegen Corona-Maßnahmen am Wochenende in Berlin.
Foto: REUTERS/Axel Schmidt

“Recharging“ der Rechten - HC Strache und der letzte Tango in Wien

Die FPÖ und das Team HC Strache haben ihre Chance, sich auf dem Rücken der Corona-Gegner neu aufzuladen, erkannt und sprechen bewusst diese Zielgruppen an, während andere Parteien diese in einer Demokratie ebenso relevanten Wähler größtenteils links liegen lassen. Im Rahmen des bereits angelaufenen Wien-Wahlkampfes hat die ÖVP bereits realisiert, dass die hohen Umfragewerte für ihre Bewegung trügerisch sind. Die SPÖ und ihr Häuptling Michael Ludwig setzen bewusst auf Bescheidenheit in der wahltechnischen Selbsteinschätzung, denn sie wissen, dass trotz guter Umfragewerte die Wahl für sie noch lange nicht gelaufen ist. Eines steht fest - HC Strache und Jörg Haiders einstiger Mann fürs Grobe, Gernot Rumpold, wollen noch einmal zeigen was in ihnen steckt und mit fortgeschrittenem Alter nicht einfach so die politische Bühne verlassen. Ebenso wird die FPÖ keine Kosten und Mühen scheuen, um ein gänzliches Desaster in Wien zu vermeiden. In Zeiten immer schwerer zu berechnender sozialer Dynamiken und sozioökonomisch unsicherer Bedingungen ist dies ein Tanz auf dem politemotionalen Vulkan. (Daniel Witzeling, 2.9.2020)

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