Die Choreografin Marlene Monteiro Freitas tritt in ihren Stücken auch selbst als Performerin auf, hier etwa in "Guintche".

Foto: Peter Hönnemann

Marlene Monteiro Freitas liebt die Freiheit. "Mich nur auf den Tanz oder enge Konzepte wie Postkolonialismus oder Feminismus zu beschränken, das ist nicht meine Art zu arbeiten, zu denken und zu leben", sagt sie. Tatsächlich hält das bisherige Œuvre der 41-jährigen, auf den Kapverden geborenen Choreografin deutliche Distanz zu weltanschaulicher Propaganda. Trotzdem tanzt bei allen ihren Stücken, oft unterschwellig, aber stets erkennbar, das Politische mit.

Durchaus deutlicher wird sie in ihrem jüngsten, gerade in Hamburg uraufgeführten Werk Mal – Embriaguez Divina (zu Deutsch: "Übel – Göttlicher Rausch"), das die Wiener Festwochen ab Donnerstag im Museumsquartier zeigen. Darin geht es um die Einschränkungen des Lebens durch das Schlechte an sich, um Gleichschritt, Gewalt und Bürokratie. Dieses Thema passt zur freiheitsbetonten künstlerischen Biografie von Freitas, die schon bei der jugendlichen Marlene einsetzt: Sie initiierte bereits als 14-Jährige in ihrer Heimat eine Tanzgruppe.

Eklektische Anfänge

Damals habe sie einfach mit Freunden getanzt, erzählt die privat zurückhaltende und öffentlichkeitsscheue Künstlerin: "Es gab keine Tanzklassen, in denen uns gesagt wurde, wir sollten dies oder das tun, sondern wir sind zusammengekommen, um für Stücke zu proben." Die selbst organisierten Auftritte fanden in Kinos oder im Freien statt. "Unsere Entdeckungsfreude war sehr eklektisch: vom Film Jesus Christ Superstar über Bilder in Magazinen bis zu Hip-Hop-Clips, Samba, Salsa und kapverdischen Tänzen."

Die relative Abgeschiedenheit der kapverdischen Inseln (sie liegen etwa 570 Kilometer vor der afrikanischen Westküste im Atlantischen Ozean) vom internationalen Tanz erlaubte der Youngsters-Company mit dem Namen Compass ihr unbefangenes Experimentieren. Davon ist Marlene Monteiro Freitas’ künstlerische Laufbahn bis heute geprägt.

Vor zwei Jahren erhielt das heute in Lissabon lebende und arbeitende Ausnahmetalent bei der Biennale Danza in Venedig den Silbernen Löwen als aufsteigende Choreografin. Dieser prestigeträchtige Preis markierte den internationalen Durchbruch. Das berüchtigt schwierige Terrain der zeitgenössischen Choreografie hatte Freitas schon zuvor mit einer hinreißend wilden Performance endgültig erobert: Bacantes – Prelúdio para uma purga ("Bakchen – Vorspiel für eine Reinigung", 2017) war in Österreich zuerst beim Steirischen Herbst zu sehen und gastierte im Vorjahr in Wien bei den Festwochen.

Ungewöhnlich und hintergründig

Dort waren zuvor bereits Guintche und Of ivory and flesh – statues also suffer zu sehen. Impulstanz hat 2011 Freitas’ Kooperation (M)imosa mit Cecilia Bengolea, François Chaignaud und Trajal Harrell gezeigt sowie 2017 Jaguar, ein Duett mit Andreas Merk. Auch hierzulande hat sich diese Künstlerin also bereits mehrfach bewiesen: als herausragende Performerin und als Choreografin von ungewöhnlichen und hintergründigen Stücken.

Aber gehen wir wieder ein paar Schritte zurück. Mit 18 Jahren übersiedelte Freitas von Kap Verde nach Lissabon und begann dort ein Tanzstudium, gleichzeitig war sie 1997 in der portugiesischen Hauptstadt Mitgründerin eines Kollektivs mit dem krachenden Namen Bomba Suicida.

Ab 2002 studierte Freitas zwei Jahre lang an Anne Teresa De Keersmaekers renommierter Tanzschule P.A.R.T.S., danach absolvierte sie, etwas holprig, die übliche Laufbahn als Tänzerin – etwa bei Emmanuelle Huynh, Loïc Touzé oder Boris Charmatz – und begann mit der Produktion eigener Arbeiten.

Freiheit im Unkontrollierbaren

In einem ihrer Frühwerke, A Seriedade do Animal ("Die Ernsthaftigkeit des Tieres", 2009), lehnte sie sich noch zu Bert Brechts Baal hin, doch in dem 2010 entstandenen Solo Guintche begann sie, ihre eigenen Fiktionen zu entwickeln. Im Unkontrollierbaren scheint für sie die größtmögliche Freiheit zu liegen: "Wie bei Träumen, in denen uns die Bilder, Gesten, Einstellungen und deren Organisation entgleiten. In der Intimität unserer Träume können wir böse sein, ohne moralisches Urteil und ohne Bewusstsein dafür, gegen eine Regel zu verstoßen. Die Qualität von Kunst besteht darin, dass sie uns dies auch im Wachzustand bewusst macht."

Mit Guintche wechselte Freitas von der Konstruktion theaterhafter Charaktere zu Entwürfen von Figuren: "Eine Figur ist für mich viel freier als ein Charakter. Man muss sie nicht von Anfang bis Ende verstehen. Es ist ein bisschen wie bei einer Cartoon-Figur, die sterben und dann wieder leben kann." Diese Figuren bevorzugt sie bis heute als "Hybride, die ein Ganzes bilden, inklusive Gesichtsausdruck, dem Rhythmus des Atmens, der Art zu schauen". Eine Analogie findet sie bei dem britischen Maler Francis Bacon: "Er hat ebenfalls an Figuren gearbeitet."

Poetin sinnlicher Fiktionen

So wie Bacon auf der Leinwand erzählt sie auf der Bühne keine Geschichten, sondern erzeugt Situationen, die sich als Abfolgen bewegter Bilder präsentieren. So zeigt sich Marlene Monteiro Freitas als Poetin sinnlicher Fiktionen, die aus ganz unterschiedlichen Quellen kommen, unter anderem der griechischen Mythologie, die in mehreren ihrer Arbeiten durchschimmert.

"Das Theatererlebnis existiert für mich weder auf der Bühne noch im Publikum, sondern an einem dritten Ort", ergänzt sie. "Die Performance ereignet sich, wenn die Bilder und Abläufe auf der Bühne und die Projektionen des Publikums einander begegnen. Das können wir nicht kontrollieren, weder die Künstler noch das Publikum mit seinen Erwartungen." (Helmut Ploebst, 31.8.2020)