Das ist eigentlich das Cover der E-Book-Ausgabe – sieht aber besser aus als das der gedruckten (siehe unten).
Foto: SFWriter.com

Hut ab, dieses Buch wartet mit dem längsten und zugleich am prominentesten besetzten "Dramatis Personae" auf, das mir seit langem in einem SF-Roman untergekommen ist: Albert Einstein. Enrico Fermi. Wernher von Braun. Richard Feynman. Und und und – plus natürlich die Titelfigur J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Manhattan-Projekts zum Bau der Atombombe. Das Personenregister liest sich wie ein "Who is Who" der US-amerikanischen Wissenschaft (und Politik) Mitte des 20. Jahrhunderts. Und wenn ich mich nicht irre, tritt im ganzen Roman niemand auf, der nicht tatsächlich gelebt hat.

Dieses beeindruckende Personal versetzt Robert J. Sawyer, der Grandseigneur der kanadischen Science Fiction, nun in ... ja, in was genau eigentlich? Mehrfach habe ich in Zusammenhang mit "The Oppenheimer Alternative" das Wort Alternativweltgeschichte (bzw. Alternate History) gelesen, aber so wirklich trifft's das nicht. Sawyer, der ausgiebig recherchiert hat und jede Menge Originalzitate im Wortlaut einbaut, bleibt dem bekannten Verlauf der Geschichte nämlich auf Punkt und Beistrich treu. Er ergänzt ihn allerdings um einen Aspekt, der der Öffentlichkeit verborgen blieb – der Roman fällt also eher ins Subgenre Secret History. Und selbst das wird durch den etwas unerwartet daherkommenden Schluss noch relativiert.

Alles kreist um Oppie

Viele Bücher wurden schon über Oppenheimer geschrieben, und fast ebenso hoch ist Zahl unterschiedlicher Charakterisierungen. Bei Sawyer kommt "Oppie", wie er im Roman zumeist genannt wird, als komplexe Persönlichkeit voller Widersprüche rüber. Als wissenschaftlicher Leiter des Manhattan-Projekts ist er ein organisatorisches Genie – im Privatleben hingegen weit weniger. Zeitgenossen attestieren ihm Naivität ebenso wie Berechnung ("a social climber"), und auf seltsame Weise stimmt beides. Sowohl sein Aufstieg als auch der Verrat an seinem besten Freund, der der Sowjetspionage verdächtigt wird, wirken, als würden sie Oppie einfach irgendwie passieren. Er scheint ein Opportunist zu sein – doch als sich nach Hiroshima und Nagasaki sein Gewissen regt, macht er kein Hehl daraus und fällt deshalb politisch in Ungnade.

Oppenheimer ist der absolute Dreh- und Angelpunkt des Romans. Das sollten SF-Fans vor der Lektüre im Hinterkopf behalten, denn auch das eigentliche Phantastik-Element des Romans wird ganz in den Dienst dieser Schwerpunktsetzung gestellt. Und so sieht es aus: Noch während in Los Alamos an der Atombombe geforscht wird, macht Oppenheimers Team die erschütternde Entdeckung, dass es im Inneren der Sonne zu einer Instabilität gekommen ist. Diese arbeitet sich nun langsam zur Sonnenoberfläche vor und wird im Jahr 2028 zu einer Eruption führen, die alle inneren Planeten inklusive der Erde grillen wird. Nach dem geschlagenen Weltkrieg wird man also ein zweites Geheimprojekt brauchen – diesmal eines zur Rettung der Menschheit.

Das Cover der Print-Edition.
Foto: Caezik SF & Fantasy

Um etwaiger Enttäuschung vorzubeugen, möchte ich hier ausdrücklich festhalten, dass sich dieser SF-Plot den Großteil der Zeit nur am Rande der historisch verbürgten Ereignisse abspielen wird, denen Sawyer auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg getreulich folgt. So mancher Leser könnte monieren, dass die Phantastik-Komponente erst unterspielt und dann überstürzt zum Abschluss gebracht wird. Da scheint das Gleichgewicht nicht zu stimmen – doch in Wahrheit schließt sich der Kreis in schönster Weise. Es steht nur eben Oppie im Mittelpunkt dieses Kreises, nicht die Welt.

In einer Schlüsselszene des Romans streichelt Oppie sehnsüchtig die Nobelpreismedaille, die ein Kollege im Regal liegen hat. (Wie ein Running Gag äußert Oppenheimer im Roman mehrfach die Überzeugung, dass er demnächst ebenfalls den Nobelpreis erhalten werde. Wir wissen, dass es nie dazu gekommen ist – und in Sawyers Szenario erhält das Ganze noch eine tragische Zusatznote.) Er empfindet dabei eine Seelenverwandtschaft zu Alfred Nobel, der einst die Nobelpreise gegründet hatte, um nicht allein als Erfinder des Dynamits in Erinnerung zu bleiben. Auch Oppenheimer, der "Vater der Atombombe", fürchtet das Urteil der Geschichte – und auch er sehnt sich nach einer Chance auf Rehabilitation. Die Metaphorik der Sonne ist nicht zu übersehen: Es gilt, die Welt just vor jenen Kräften zu bewahren, die er und seine Kollegen auf Erden entfesselt haben.

Wunderbar erzähltes Zeitdokument

Eleganz und Bildung prägen Sawyers Sprache, deren Fluss man sich willig hingibt. Zugegeben, das eine oder andere Mal übertreibt er die physikalischen Metaphern zur Beschreibung seiner Protagonisten vielleicht ein bisschen ("The two men repelled each other like protons itching to burst a nucleus apart, and it seemed they couldn't both be in the same place at the same time."). Doch mehrheitlich glänzt die Erzählung mit wunderbaren Formulierungen wie der zu Oppenheimers charakteristisch holprigem Gang: one friend had described it as a constant falling forward as if he were forever tumbling into the future.

Und so fliegen die Seiten dahin, während wir in einen entscheidenden Abschnitt der Geschichte eintauchen, vom Zweiten Weltkrieg über die Operation Paperclip zur Rekrutierung ehemaliger Nazi-Wissenschafter bis hin zum Kalten Krieg und zur Kommunistenhatz während der McCarthy-Ära. Und alles wirkt höchst authentisch: das Leben in einer vor der Öffentlichkeit verborgenen Kleinstadt, die nur von Wissenschaftern und Militärs bevölkert ist, die Freundschaften und Konflikte zwischen den beteiligten Akademikern – und nicht zuletzt deren Zweifel, an einem Projekt mitzuarbeiten, das die Welt kurzfristig von etwas Bösem befreien, aber langfristig vielleicht etwas noch Destruktiveres hervorbringen wird. Es war Oppenheimer selbst, der es mit einem Zitat aus der hinduistischen Bhagavad Gita am deutlichsten aussprach: "Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer der Welten."