Bettye LaVette: Ihr neues Album "Blackbirds" mit einer Sammlung schwarzer Klassiker trifft den Nerv der Zeit.

Foto: Verve

Heute verschließt sie beim Singen die Augen. Früher war Misstrauen angebracht. Da galt es, den Veranstalter im Auge zu behalten, dass der nicht mit der Gage türmt, da galt es, den Saal nach in Richtung Bühne fliegender Objekte zu überwachen. Wobei: Saal ist ein großes Wort. Es waren Juke Joints, Strip-Clubs, Absturzbars, in denen Bettye LaVette ihre Kunst vortrug. Die Zähigkeit, die dafür vonnöten war, die hörte man ihrer Stimme früh an. Heute versenkt sie sich mit geschlossenen Lidern in ihre Lieder. Ihre sind es immer, selbst wenn sie meist von anderen stammen, auch auf ihrem neuen Album Blackbirds.

Das ist eine Sammlung von neun Songs, acht davon haben schwarze Frauen berühmt gemacht. Große Namen wie Nina Simone, Dinah Washington, Ruth Brown, Billie Holiday — plus Paul McCartney. Der bleiche Beatle schrieb in den Sixties den Titelsong über die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. LaVette bremst das Lied ab und haucht ihm ihr Leben, ihre Biografie ein. Und sie hat einiges erlebt, was sie in ihrer Biografie A Woman Like Me mit David Ritz gemeinsam festhielt.

Berühmte Girls aus der Nachbarschaft

LaVette wuchs in Detroit auf. Während Mädels aus der Nachbarschaft wie Aretha Franklin oder Diana Ross Weltstars wurden, wurde sie keiner. Dabei hatte sie das Zeug dazu. Doch ihr war beschert, was viele talentierte schwarze Frauen im Business erlebten. Sie wurde von Musikindustrie-Zuhältern, wie sie sie nennt, über den Tisch gezogen. Oder durchs Bett. Mehr als einmal schlief sie mit Labeltypen, die ihr ein Weiterkommen in Aussicht gestellt haben. Aber kaum hatten sie die Hosen wieder an, war alles vergessen, auch LaVette.

Hinzu kam etwas, was man heute systematischen Rassismus nennt. Weiße Sängerinnen hatten Hits mit Songs, die schwarze zuvor aufgenommen hatten, die aber nicht im Radio gespielt wurden. LaVette passierte das öfter.

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Der Hitproduzent von Atlantic Records, Jerry Wexler, erkannte zwar ihr Talent, doch LaVette stritt sich mit ihm auseinander, bevor sie zusammenfinden konnten. Ihr schien ein Schicksal als übertalentierte Hinterhof-Interpretin zu blühen. Bloß vornehmlich britische Soul-Enthusiasten verehrten ihre frühen Arbeiten, unter denen sich ein paar kleine Hits befanden. Leben konnte sie davon nicht. Es sollte bis in die Nullerjahre dauern, bis sich das Blatt wendete.

Mit Joe Henry zu Barack Obama

2005 erschien I've Got My Own Hell To Raise auf Anti-Records. Joe Henry hatte 2002 für das Label Solomon Burkes Erfolgsalbum Don't Give Up On Me produziert. Der ausladende Soul-Prediger war nicht nur ein früherer Liebhaber LaVettes gewesen, sein Album führte vor, dass es ein Publikum für von der Welt vergessene Soul-Veteranen gab, wenn diese entsprechend ihren Talenten produziert werden.

Was Henry mit Burke tat, wiederholte er mit LaVette, der Rest waren Grammy-Nominierungen und der Beginn einer späten Karriere, die die heute 74-Jährige über Auftritte in der Hollywood Bowl oder für Barack Obama zum Traditionslabel Verve gebracht hat. Dort wirkt sie wie ein alter Wein, den jemand aus den Tiefen des Kellers geholt hat.

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Dessen Blume ist von zeitloser Intensität, das zeigt Blackbirds. LaVette eröffnet mit Nina Simones I Hold No Grudge. Mit ihrer von Drinks und Streiten gefärbten Stimme versenkt sie sich in diesen Beziehungsschleicher. Die Sujets ihrer Songs sind gebrochene Herzen, untreue Liebhaber, falsche Versprechungen. Angesichts von Black Lives Matter besitzen diese Lieder nun eine politische Dimension. Schließlich befindet sich auf Blackbirds auch eine Version von Billie Holidays Strange Fruit. Ein Stück Weltkulturerbe, das die rassistischen Lynchmorde im US-Süden beklagt.

Sinistre Themen

Wie es sinistren Themen ansteht, hält LaVette das Tempo zurück. So schafft sie Platz, um ihren Gesang mit der erlesenen Instrumentierung abzustimmen. Produzent Steve Jordan saß selbst am Schlagzeug und fördert von dort elegante Rhythmen nach vorne. Ein paar Blues-Licks, Seelenmassage aus der Orgel und der Brumm-Bass besorgen das Beet, auf dem LaVettes Kunst erblüht.

Sie hat die Augen geschlossen, ihr Herz ist offen und schwer. Sie hat in den Suppenküchen der Black Panther gekocht, sie hat erlebt, unter welchen Umständen die Bürgerrechtsbewegung der weißen Politik das nie wirklich eingelöste Versprechen der Gleichstellung abgerungen hat. Nun kippt diese ewige Schieflage noch weiter. Deshalb berührt der Ton ihres Albums nicht nur jene, die das Gefühl eines gebrochenen Herzens kennen, er trifft zugleich den Nerv der Zeit. (Karl Fluch, 31.8.2020)