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Durch die Detonation im Hafen haben Hunderttausende ihr Obdach verloren. Zudem wurden neun größere Krankenhäuser und 178 Schulen beschädigt.

Foto: REUTERS/GONZALO FUENTES

Knapp einen Monat nach der tödlichen Detonation im Beiruter Hafen haben sich die politischen Machtblöcke im Libanon offenbar auf einen neuen Regierungschef geeinigt. Der bisherige Amtsinhaber Hassan Diab ist nach der Explosionskatastrophe Anfang August zurückgetreten, nun soll Mustapha Adib – aktuell noch libanesischer Botschafter in Berlin – das Land aus den multiplen Krisen führen.

Adib ist Sunnit, das ist die Bedingung für den Premierposten im Libanon, so will es die Verfassung des Landes. Sowohl die sunnitische Zukunftspartei von Ex-Premier Saad Hariri als auch die schiitische Hisbollah und ihre Verbündeten, die maronitische Patriotenbewegung von Präsident Michel Aoun, haben sich bereits öffentlich hinter Adib gestellt. Aoun beauftragte ihn am Montag mit der Regierungsbildung und zeigte sich zudem zu Reformen bereit: Der Libanon müsse ein "laizistischer Staat" werden. Das derzeit herrschende konfessionelle Proporzsystem sei "ein Hindernis für jegliche Reform und den Kampf gegen die Korruption" geworden.

Hoher Besuch

Die neuen Töne vonseiten Aouns und das Timing für die Kür von Adib sind wohl kein Zufall. Das hochverschuldete Land bekommt noch am Montag Besuch vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Frankreich ist die frühere Mandatsmacht für den Libanon, beide Länder sind noch eng miteinander verbunden. Zwei Tage nach der verheerenden Detonation am 4. August war Macron als erster ausländischer Staatschef nach Beirut gereist – und wurde, anders als die heimischen Politiker, jubelnd von den Menschen in den zerstörten Vierteln der Stadt empfangen.

Er versprach, dass die humanitäre Nothilfe Frankreichs nicht in korrupte Hände fließen werde. Ein längerfristiger Beistand aus dem Ausland sei an politische Bedingungen geknüpft. Dazu wolle er der libanesischen Führung einen neuen Pakt vorschlagen, für dessen Beschluss er am 1. September wiederkehren wolle – das ist der Jahrestag des hundertjährigen Bestehens des Libanon.

Der "neue Pakt" à la Macron heißt offenbar: Ernennung einer Übergangsregierung, die in der Lage ist, dringende Reformen durchzuführen; vorgezogene Parlamentswahlen innerhalb eines Jahres und eine umfassende Prüfung der Zentralbank. Diese hatte jahrelang immer neue Kredite zu überhöhten Zinsen aufgenommen, um alte Schulden zu begleichen, bis das System in sich zusammenbrach. Daraufhin sind die Dollar-Reserven im Land gefährlich zusammengeschmolzen. Die libanesische Währung hat seit Oktober bis zu 80 Prozent an Wert verloren, das bekommt die Importnation teuer zu spüren. Die Hälfte des Landes lebt laut Uno inzwischen unter der Armutsgrenze, viele Kühlschränke im Land sind leer und ohne Strom. Alle Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über ein Rettungspaket scheiterten bislang.

2.750 Tonnen Ammoniumnitrat

Wegen der prekären wirtschaftlichen Lage brodelte der Unmut gegen die politische Führung quer durch alle Konfessionen bereits seit Monaten. Dann explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen, die ohne Sicherheitsmaßnahmen gelagert worden waren. Die Zahl der Todesopfer ist inzwischen auf 190 gestiegen. 6.500 Menschen wurden verletzt, drei Personen werden noch immer vermisst. Zudem wurden 50.000 Häuser, neun größere Krankenhäuser und 178 Schulen beschädigt. Die Behörden untersuchen noch immer, wie es überhaupt zu der Explosion kommen konnte.

Ob es Adib gelingen wird, rasch eine Regierung zu bilden und die Lage im Land zu beruhigen? In den sozialen Medien ertönt Skepsis: Adib werde nur das System seines Vorgängers Diab fortsetzen, heißt es. Schließlich wurde er von den gleichen politischen Schwergewicht gekürt, die das Land in die Krise geführt hatten. Es wird gewitzelt, dass der Nachname Adib ja auch nur ein Anagramm des Namens Diab sei. Zuvor war die libanesische Botschaft in Berlin bereits dafür bespottet worden, einen Spendenaufruf nach der Explosion auf Facebook getätigt zu haben – mit einer Kontonummer des libanesischen Finanzministeriums.

Corona-Pandemie wütet

Die Protestbewegung will mehr als nur ein neues Gesicht an der Spitze, sie fordert einen tiefgründigeren Systemwandel und krisengerechte Antworten – denn eines ist klar: Dem Libanon bleibt zurzeit keine Krise erspart. Allein im August wurden in dem kleinen Sechs-Millionen-Einwohner-Land mehr als 8.300 Neuinfektionen mit dem Coronavirus registriert, bis Juli waren insgesamt nur knapp 4.000 Corona-Fälle verzeichnet worden. Die Test- und Behandlungskapazitäten sind auf Grund der multiplen Krisen sehr eingeschränkt. Ein teilweiser Lockdown jagt den nächsten. Für den Schulstart im Herbst gibt es offenbar keinen Plan.

Laut Wiebke Eden-Fleig trifft der Bildungsnotfall vor allem die ärmsten Kinder. Die Deutsche betreibt seit Jahren die Kindergarteninitiative Just.Childhood in palästinensischen Flüchtlingslagern. In den Camps leben neben Palästinensern inzwischen auch syrische und sudanesische Flüchtlinge und Libanesen. Aufgrund der Menschendichte sind Hygienevorschriften dort kaum einzuhalten, berichtet Eden-Fleig dem STANDARD. Kinder, die sonst tagsüber von Just.Childhood betreut werden, sind seit Monaten zu Hause. Mehrköpfige Familien leben dort vielfach in Einzelzimmern, das Gewaltpotenzial ist laut Eden-Fleig enorm. Den Familienvätern, oft Tagelöhner am Bau, sind die Einnahmen weggebrochen, erstmals gibt es in den Lagern auch Hungersnöte. Die humanitäre Nothilfe konzentriere sich zurzeit vor allem auf die Lebensmittelversorgung und medizinische Hilfe. Doch auch Schulen und Kindergärten bräuchten dringen finanzielle Unterstützung, sagt Eden-Fleig – und warnt vor den Langzeitfolgen dieses Bildungsnotfalls. (Flora Mory, 31.8.2020)