Spezialeinsatzkräfte verhaften Protestierende in Minsk. Zehntausende marschierten auch am Wochenende wieder, um sich gegen die Führung zu wehren.

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5 zu 2 für Lukaschenko. In Belarus (Weißrussland) hat sich ein sonderbares Kräftegleichgewicht herausgebildet. An den Wochentagen hat der Präsident die Kontrolle inne, er bestimmt die politische Agenda, besucht Fabriken und deklamiert lautstark Sanktionen gegen den Westen. Am Wochenende jedoch übernimmt die Opposition die Initiative, deren Forderungen nach einer Abdankung des langjährigen Amtsinhabers und einer Bestrafung der Polizeigewalt Hunderttausende im ganzen Land unterstützen, während sich Lukaschenko selbst mit Schutzweste und Kalaschnikow in seiner Residenz verschanzt – umgeben von einem Ring schwerbewaffneter Polizei- und Militärsondereinheiten.

Dieser neue Geist der Freiheit lässt sich auch nicht mehr von der Straße zurück in eine enge Flasche Brestskaja Subrowka zwingen. Die zunächst von Lukaschenko genutzte Methode "Knüppel aus dem Sack" erwies sich als totaler Fehlschlag, die Proteste gegen das Regime gewannen danach nur an Stärke.

Doch auch der Versuch, die Krise auszusitzen und zu warten, bis die Demonstranten müde werden, zeigt bislang noch nicht das gewünschte Resultat: Während es unter der Woche so schien, als ginge der Opposition die Luft aus, so blies sie am Sonntag Lukaschenko eindrucksvoll die gute Geburtstagslaune weg. Am Montag kündigte Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa dann sogar noch an eine neue Partei unter dem Namen "Together" gründne zu wollen.

Lukaschenko für Veränderung

Am Ende sah sich der 66-Jährige gezwungen, wenn schon nicht selbst zu den Demonstranten rauszugehen, so doch zumindest seinen Assistenten Nikolai Latyschenok zu schicken. Die erste Annäherung an ein Gespräch zwischen der Obrigkeit und ihren Kritikern, auch wenn der Dialog scheiterte: Latyschenok warf den Demonstranten "revolutionäre Umtriebe" vor und verweigerte sowohl dem Koordinationsrat der Opposition als auch Maria Kolesnikowa die Anerkennung als Gesprächspartner. Reden könne man stattdessen mit "Initiativgruppen" über eine Verfassungsänderung, schlug Latyschenok vor.

Wie diese Verfassungsänderung aussehen könnte, konkretisierte Lukaschenko am Montag: Der Staatschef räumte bei einem Treffen mit dem Chef des Obersten Gerichts Walentin Sukalo ein, dass "wir ein etwas autoritäres System" haben.

Zwar halte er seine schützende Hand über die Rechtsstaatlichkeit in Belarus, meinte er. "Doch müssen wir es so machen, dass das System unabhängig von Persönlichkeiten funktioniert, auch unabhängig von Lukaschenko", fügte er hinzu.

Mögliche Verfassungsänderung

Diese Abgabe von Kompetenzen in einer möglichen Verfassungsänderung ist der Kompromissvorschlag, mit dem Lukaschenko die Proteste von der Straße holen und sich zumindest noch eine Zeitlang im Amt halten will. In einem solchen Szenario könnte die Macht des Premierministers gestärkt werden. Dass solche Gedankenspiele auch in Moskau betrieben werden, wird aus den Andeutungen Wladimir Putins deutlich, der Lukaschenko zwar seine Unterstützung zusagte, aber leise Veränderungen anmahnte. In der jetzigen Lage würde der Kreml wohl bei Lukaschenko darauf dringen, dass der Premier enge Beziehungen nach Moskau unterhält.

So könnte sich Lukaschenko dann auch einen "ehrenvollen Abtritt" verschaffen mit Neuwahlen in Minsk und einer gleichzeitigen möglichen "Beförderung" zum Präsidenten des bilateralen Unionsstaats zwischen Russland und Belarus. Viel Pomp, wenig Einfluss.

Noch gibt es aber keine konkreten Absprachen, und so sind auch die Konturen der versprochenen Verfassungsänderung noch absolut unscharf. Nur so viel machte Lukaschenko klar: Eine Rückkehr zur Verfassung von 1994 wird es nicht geben. Die alte Verfassung begrenzte die Amtszeit des Präsidenten auf maximal zehn Jahre – Lukaschenko ist seit 1994 im Amt. Und noch lässt die Regierung in ihrer Repression auch nicht nach. Ein Anführer eines Streiks in der für Belarus bedeutenden Kalisalzproduktion ist am Montag zu 15 Tagen Haft verurteilt worden. Festgenommen wurde am Montag außerdem die Regierungskritikerin Lilia Wlassowa fest, die Mitglied des von der Opposition ins Leben gerufenen Koordinierungsrates ist. Der Erzbischof von Minsk wurde Tadeusz Kondrusiewicz, wurde am Montag nach einem Aufenthalt in Polen an der Rückkehr in das Land seiner Tätigkeit gehindert. (André Ballin, 31.8.2020)