Die neue Partei soll Wmestje – zu Deutsch: Miteinander – heißen.

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Minsk – Nach wochenlangen Massenprotesten zeigen sich in der belarussischen Opposition Risse. Die ins litauische Exil geflohene Regierungskritikerin Swetlana Tichanowskaja kritisierte am Dienstag öffentlich die Strategie einer eigentlich mit ihr verbündeten Oppositionsgruppe. Der Oppositionsrat, in dem mehrere Gruppierungen vertreten sind, dürfe nicht von einer politischen Partei dominiert werden, erklärte sie.

Die Regierungskritikerin Maria Kolesnikowa und Unterstützer des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko hatten zuvor die Bildung einer Partei namens "Gemeinsam" bekanntgegeben. Tichanowskaja hatte von Litauen aus die Initiative zur Gründung des Oppositionsrates ergriffen, der einen friedlichen Machtwechsel herbeiführen soll.

Tichanowskaja gegen Verfassungsreform

Tichanowskaja kritisierte zudem das Ziel der neuen Partei, eine Verfassungsreform zu erreichen. Dies lenke ab vom eigentlichen Plan, Präsident Alexander Lukaschenko von der Regierung abzulösen und Wahlen zu veranstalten. Kolesnikowas Lager veröffentlichte daraufhin eine einlenkende Erklärung, wonach man die Arbeit des Oppositionsrates nicht durcheinander bringen wolle. Zudem stehe man hinter Tichanowskajas Forderung nach Neuwahlen und ihrem Wahlprogramm. "Kein einziger Belarusse hat Zweifel am Sieg von Swetlana Tichanowskaja und daran, dass ihr Sieg gestohlen wurde", hieß es in der Erklärung.

Schüler demonstrieren

Tausende Schüler folgten unterdessen einem Aufruf Tichanowskajas, den Beginn des neuen Schuljahres zu boykottieren. Sie schwenkten Oppositionsfahnen, hielten Kundgebungen vor den Schulgebäuden ab und sammelten Unterschriften für Lukaschenkos Rücktritt. Auf Filmaufnahmen war zu sehen, wie Schüler von maskierten Sicherheitskräften aus der Menge gezerrt und weggebracht wurden. Viele staatliche Schulen waren als Wahllokale genutzt worden, und Lehrer hatten bei der Auszählung der Stimmen geholfen. Nach Angaben der Wahlkommission gewann der seit 26 Jahren regierende Lukaschenko den Urnengang mit einem Stimmenanteil von 80 Prozent. Auch in zwei großen Traktorenwerken gab es Medienberichten zufolge neue Proteste.

Die Opposition will mit einem landesweiten Streik den Druck auf den umstrittenen Lukaschenko weiter erhöhen. Am Dienstag soll niemand zur Arbeit gehen, hieß es in einer Ankündigung. Gleichzeitig gab die Demokratiebewegung um die Oppositionelle Maria Kolesnikowa die Gründung einer Partei zur Erneuerung des Landes bekannt.

"Wir laden alle ein, Solidarität zu zeigen und die Arbeit einzustellen." Die Organisatoren nannten es "den größten Massenstreik in der Geschichte des Landes". Zu neuen Partei sagte die 38-Jährige Kolesnikowa am Montag: Die politische Kraft mit dem Namen Wmestje – zu Deutsch: Miteinander – solle den Menschen, die Veränderungen wollten, eine Basis geben.

Sechster Wahlsieg in Serie

Kolesnikowa arbeitet für den Ex-Bankenchef Viktor Babariko, der um das Präsidentenamt kandidieren wollte. Lukaschenko ließ ihn aber vor der Wahl verhaften, das Strafverfahren gilt als politisch motiviert.

In Belarus gibt es seit rund drei Wochen Streiks und Proteste, denen sich hunderttausende Menschen angeschlossen haben. Auslöser war die von Fälschungsvorwürfen überschattete Wahl, bei der sich Lukaschenko mit mehr als 80 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger erklären ließ. Der 66-Jährige ist bereits seit 26 Jahren an der Macht, der Wahlsieg wäre der sechste in Serie. Die Demokratiebewegung sieht die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja als Gewinnerin der Wahl.

Oppositionelle Tichanowskaja spricht vor Uno-Sicherheitsrat

Tichanowskaja wird am Freitag an einer öffentlichen Videokonferenz des Uno-Sicherheitsrates teilnehmen. Der Uno-Sicherheitsrat berät am Freitag erneut über die Lage in Belarus. Unter anderem soll es um die Behinderung ausländischer Journalisten bei ihrer Arbeit in Belarus gehen.

Am Wochenende waren die Behörden in Belarus gegen zahlreiche Journalisten vorgegangen, ein ARD-Kamerateam wurde vorübergehend festgesetzt. Da es sich um eine informelle Konferenz handelt, ist die Teilnahme für Mitglieder des Sicherheitsrates freiwillig. Mitglieder wie China und Russland sind gegen eine Einmischung des Uno-Sicherheitsrates. Sie bewerten die Proteste in Belarus als interne Angelegenheit, die die internationale Ordnung nicht bedrohe.

Veränderungen in Aussicht gestellt

Am 1. September beginnt in den meisten Ex-Sowjetrepubliken auch traditionell das neue Schuljahr. "Lasst uns zeigen, dass Lukaschenko kein Schuldirektor ist", hieß es weiter. Auch Tichanowskaja rief die Lehrer aus ihrem Exil im EU-Land Litauen in einem Video auf, den Schülern die Wahrheit zu sagen. "Lasst uns die Schule und den guten Namen der Lehrer von Heuchelei und Angst reinigen", sagte die zweifache Mutter, die selbst als Fremdsprachenlehrerin gearbeitet hatte. Die Schule sei ein Ort, an dem es auch fragwürdige Machenschaften gebe. Zu Schulbeginn müssten die Lehrer den Eltern und Kindern wieder in die Augen schauen und ehrlich sein.

Die Lage in Minsk blieb auch zu Wochenbeginn angespannt, nachdem am Sonntag zehntausende Menschen den Rücktritt Lukaschenkos gefordert hatten. Der 66-Jährige hatte am Montag erstmals Veränderungen in Aussicht gestellt. Konkret gehe es um Änderungen der Verfassung, die von der Gesellschaft getragen werden solle, sagte er.

Mehrere Mitglieder des Koordinationsrates festgenommen

Kolesnikowa warnte jedoch davor, Lukaschenko nach vielen nicht erfüllten Versprechungen zu vertrauen. Dennoch sei die Strategie des Koordinationsrates der Demokratiebewegung erfolgreich, sagte Kolesnikowa am Montagabend. "Vor zwei Wochen wollte der amtierende Präsident nicht einmal wahrnehmen, dass ein Dialog möglich ist. Jetzt sagt er selbst, dass ein Dialog notwendig ist." Die Opposition sei weiter geduldig.

Die Sicherheitskräfte gehen jedoch weiter gegen Gegner des Präsidenten vor. Mit Lilija Wlassowa, die in Minsk als Mediatorin arbeitet, sei ein weiteres Mitglied des Gremium festgenommen worden.

Der Koordinationsrat der Demokratiebewegung verurteilte das Vorgehen der Behörden. "Das zeugt nur davon, dass die Macht am öffentlichen Dialog und der Lösung der innenpolitischen Krise durch Verhandlungen nicht interessiert ist", hieß es.

Berichte über Misshandlung und Folter

Die Vereinten Nationen (UN) haben nach eigenen Angaben Hunderte Berichte über Misshandlung und Folter oppositioneller Gefangener in Belarus erhalten. In den vergangenen Wochen seien 6700 Menschen im Zuge der Proteste nach der Präsidentenwahl festgenommen worden, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht von UN-Menschenrechtsexperten. (APA, 1.9.2020)