"Il est parti come une fusée." Man muss nicht wirklich gut Französisch können, um den ersten Satz zu verstehen, mit dem Dorine Besson und Florian Kunckler vergangenen Donnerstagabend aus Chamonix in der Onlineausgabe der französischen Sportzeitung "L'Equipe" ihre Reportage über den Rekordversuch von Pau Capell begannen. Nicht, wenn man weiß, wer Pau Capell ist, was ihn vergangene Woche an den Fuß des Mont Blanc trieb – und was hier normalerweise Ende August los ist.

Aber da in Österreich auch "Normalos" – ja, auch wenn sie regelmäßig laufen – von alledem leider oft keinen blassen Schimmer haben, auch wenn sie beim Kürzel UTMB nicht zu hyperventilierten beginnen und mit Chamonix im besten Fall "mondäner Wintersportort" assoziieren, beginnt diese Geschichte anders. Nicht mit dem letzten Donnerstag, sinngemäß übersetzt, "wie von der Tarantel gestochen" in Chamonix gestarteten jungen spanischen Traillauf-Superstar Pau Capell, sondern mit Basics. Und einer Compliance-Erklärung.

Foto: thomas rottenberg

Vergangenes Wochenende war ich in Frankreich. In Chamonix. Ein Presseevent. Gastgeber war das Schweizer Laufschuh-Label On. On-Schuhe erkennt auch der Laie: Charakteristisch für sie sind die "Clouds": kleine Gewölbe an der Sohle. Das Label ist auf dem österreichischen Laufschuhmarkt mittlerweile der drittgrößte Player, daheim in der Schweiz längst Erster, in Deutschland Vierter und in den USA Siebenter.

Nicht im Sneaker-, sondern im Performance-Segment, wohlgemerkt. Nach Chamonix – ins Mekka des Traillaufens – bat man, um neben einem nachhaltigen Wanderschuh einen Teil der Herbstkollektion der hauseigenen Laufbekleidungslinie zu präsentieren – und der Fachpresse Lust auf einen (angeblich sensationellen) Traillaufschuh zu machen, der kommendes Frühjahr auf den Markt kommen wird.

Foto: thomas rottenberg

Das Datum war nicht zufällig gewählt: Ende August findet in und um Chamonix der UTMB statt. UTMB steht für Ultra Trail du Mont-Blanc. Es geht gegen den Uhrzeigersinn rund um die Mont-Blanc-Gruppe: 172 Kilometer, 10.000 Höhenmeter – in allerhöchstens 46,5 Stunden. Neben dem 2003 zum ersten Mal ausgetragenen Hauptlauf gibt es mittlerweile sechs (kürzere) Sidevents, an denen insgesamt über 10.000 Läuferinnen und Läufer teilnehmen. Der Tross, also begleitende Angehörige, Betreuerteams, Medien sowie Hersteller- und Sponsorvertreter, bringt weitere 20.000 Köpfe in die Region. Und entlang der Strecke stehen bis zu 50.000 Zuschauer.

Normalerweise: Der UTMB 2020 wurde – schon im Frühjahr – abgesagt.

Foto: thomas rottenberg

Das bedeutet aber nicht, dass Chamonix derzeit "läuferfrei" ist. Viele einschlägige Marken, aber auch Trail-Freaks und Wanderer aus (fast) aller Welt wollen den Sommer in Chamonix ausklingen lassen. Sei es, um Traum-Trails zu genießen. Sei es, um Material zu testen oder zu präsentieren. Sei es, um zu versuchen, den Streckenrekord zu brechen: Pau Capell etwa.

Der 29-jährige Spanier hat den Lauf 2019 gewonnen. In 20 Stunden, 19 Minuten und 7 Sekunden. So schnell war hier noch keiner. Heuer, vergangene Woche, wollte er mehr: Als regierender Champion die 20-Stunden-Marke unterbieten. Werden solche Rekorde nicht im Rahmen eines Rennens aufgestellt, spricht man von der "FKT" – der "fastest known time". Und da es derzeit kaum Bewerbe gibt, stürzen sich Medien und Szene auf FKT-Events.

Foto: thomas rottenberg

On stellte – so wie etliche andere Labels auch – Staffelteams, die Capell streckenweise begleiteten. Parallel dazu nutzte man aber die Zeit, um zu präsentieren, was man für Normal-User Neues hat.

Das ist "Part of the Game" – und hat für die BerichterstatterInnen ein bisserl was von Weihnachten: Es geht auch ums Ausprobieren. Und die Frage, ob man durchgeschwitzte und eingedreckte Hosen und Shirts zurückgeben soll, wird mit einer Mischung aus Heiterkeit und Entsetzen (nicht) beantwortet: Ausrüstung mit Gebrauchsspuren aufbereitet doch in den Verkauf zu bringen, mutet nicht nur grotesk an, das ist es auch. Also bleibt das Testzeug (wir reden ausschließlich von Gewand und Schuhen) in der Regel bei den Testerinnen und Testern – darüber, ob das "Beeinflussung" ist, kann man natürlich diskutieren: Tatsächliche Fachmedien bekommen dermaßen viel Einladungen, dass sich die Redaktionen sehr genau aussuchen (können oder müssen), wo sie jemanden hinschicken.

Foto: thomas rottenberg

Nicht nur im Sport. In fast allen Themenfeldern funktioniert die Präsentation neuer Inhalte und Angebote heute ausschließlich so: Modeschauen, Restaurant- oder Geschäftseröffnungen, Produktlaunches jedweder Art, Autotests oder Reiseberichte – kein Medium dieser Welt könnte seine Lifestyle-Seiten ohne Einladungen und Samples füllen. Das gilt auch für den Kulturbereich: Buchpräsentationen, Premierenberichte oder Setbesuche für Interviews mit Kinostars und Regisseuren basieren durch die Bank auf Einladungen. Nicht erst seit Redaktionsbudgets eng und enger werden.

Klingt mondän. Sieht auch so aus. Fühlt sich vor Ort dann auch so an – dass da allerdings selten Zeit bleibt, dem Mont Blanc mehr als nur beim Sonnenuntergang zuzuprosten, sieht ja keiner.

Foto: thomas rottenberg

Die Frage ist, wie transparent man mit solchen Einladungen umgeht.

Das Publikum prügelt nämlich selektiv: In die Kritik gerät meist nur, wer selbst aufs Eingeladenwerden hinweist. Wo die – verpflichtenden – Compliance-Hinweise fehlen, stößt sich kaum wer dran. Noch "lustiger" ist das bei "Influencern", die mitunter schon fürs Anreisen eine Preisliste vorlegen und (das kenne ich aus einem Job auf der anderen Seite des Marketingzauns) sich oft schon vorauseilend dazu verpflichten, nur Positives ("gerne übernehme ich Ihr Wording") zu schreiben und in einem bestimmten Zeitraum Mitbewerber weder in Wort noch in Bild vorkommen zu lassen.

Allerdings: Immer mehr Firmen erkennen, dass derlei außer schnelle Klicks wenig bringt. Dass auch das Wort "aber" zählt.

Mein Verhältnis zu On ist dafür ein gutes Beispiel: Ich gehörte lange zu jenen Leuten, die mit den Schweizer Schuhen schlicht nicht laufen konnten. Und habe das auch immer wieder geschrieben. Trotzdem riss der Kontakt nicht ab.

Foto: thomas rottenberg

Nach Chamonix hatten die Schweizer außer mir fast nur "echte" Trail-Spezialisten und bewusst keine "Influencer" geladen: Die Oberösterreicherin Sigrid Huber von "Trailrunning-Szene" (Bildmitte) und der Berliner Clemens Niedenthal vom "Trail-Magazin" (beim Fotografieren), eine Niederländerin und ein paar britische und französische SpezialistInnen.

Dass gelaufen wurde, war klar. Zeitkorsettbedingt aber nur kurz und harmlos-zivil: Gleich nach der Ankunft Donnerstagabend. Am Freitag frühmorgens. Da gab es teils sogar noch blauen Himmel und tolle Blicke. Beim Samstagmorgenlauf goss es dann in Strömen – aber da war ich schon nicht mehr dabei. Soviel zum "Urlaubscharakter" solcher Trips. Aber: Klar, ist das trotzdem mehr als super. Ein Privileg – und in Summe wird daraus ein Mega-Erlebnishorizont.

Foto: thomas rottenberg

Schon alleine wegen der Möglichkeit, anderswo als daheim zu laufen. Natürlich hätte ich supergern ein paar Trails rund um Chamonix ausprobiert. Natürlich wäre ich auch gern auf einen der Gipfel rauf, die mir via Social Media schon bei den ersten Erwähnungen des Trips als "Muss" empfohlen worden waren. Natürlich wäre es lustig gewesen, zu versuchen, was mir eine Posterin schrieb: "Geh bitte, auf den Berg (gemeint war der Mont Blanc; Anm.) rauf gehen ist doch viel schöner als jede Produktpräsentation. Das muss zeitlich drin sein. Erklär das den Gastgebern. Die sind ja nicht deppad – die sollen das Programm halt ändern." Die Frau meinte das tatsächlich ernst.

Gern ein anderes Mal. Und zwar dann, wenn ich privat und mit genügend Zeit hier bin.

Foto: thomas rottenberg

Doch auch ohne "alpines" Trailerlebnis war schon die kurze Rennerei im Tal superfein. Blicke, Panorama, Luft. Eh klar. Aber auch die Details im Ort sind spannend: Chamonix ist als Skiort und auf Massenbetrieb ausgelegt. Die Hotelblöcke sind teils brutal, teils skurril – erst recht, weil man nach drei Minuten im Wald steht. Plätze und Straßen haben Großtstadtdimensionen – aber das fällt erst auf, wenn der Ort praktisch leer ist.

Aber da ist noch etwas. Die Wertigkeit von Sport und Bewegung lässt sich auch an der Planung öffentlicher Räume erkennen: Nennen Sie mir fünf österreichische Gemeinden, in denen eine Laufbahn fast mitten im Ort zu finden ist – und zwar für alle und jederzeit frei betret- und benutzbar.

Foto: thomas rottenberg

Was die Ons uns "offiziell" zeigten? Nun, zum einen natürlich viel von dem, was die meisten von uns bei den Läufen anhatten: Unterschiedliche Laufschuhe. "Apparel" (so heißt Gewand auf Neusprech).

Aber dann, auf einer kleinen Hütte beim Wasserfall "Cascade du Dard" dann auch Grundsätzliches zur zehnjährigen Labelgeschichte, Zahlen und der "Run-on-Clouds"-Grundidee: Grob vereinfacht gesagt basiert die darauf, dass die Vielzahl der kleinen Luftgewölbe der Sohle bei jedem Läufer und jeder Läuferin "individueller" als ein durchgängiger "Puffer" dämpfen und Luft als "Dämpfstoff" weniger zu bewegendes oder verschleißendes Material bedeutet.

Foto: thomas rottenberg

Außerdem – darum waren wir ja auf der Hütte – ging es um den ersten "echten" Wanderschuh der Schweizer (219,95€) – und um Nachhaltigkeit: Das Obermaterial ist zu 80, der ganze Schuh zu 40 Prozent aus Recyclingmaterial. Mehr geht, hieß es, wegen eines der Grundprobleme des Plastikrecyclings (noch) nicht: Man weiß nie zu 100 Prozent, welchen Materialmix man hat – aber vor allem Schuhsohlen brauchen zertifier- und normbare Härte, Qualität und Elastizität. Beim Wandern – aber noch mehr beim Laufen: "Wir arbeiten dran."

Und wieso der Schuh (auch) weiß ist? Weniger Farbe bedeutet weniger Wasserverbrauch. Und "every shoe tells a story" – auf deutsch: Gebrauchsspuren und Patina machen einzigartig. (Bei Brooks kamen die Designer bei einem Trail-Laufschuh angeblich auf die gleiche Idee.)

Foto: thomas rottenberg

Dann kam der "Spielpart": Wir wurden gebeten, die Kameras wegzulegen, und auch keine Details oder Namen zu schreiben: Wir sollten/durften einen in einer schwarzen Kiste versteckten Schuh befühlen …

Foto: thomas rottenberg

… sollten ihn dann aus dem Gedächtnis zeichnen, ein paar Fragen ("wofür wohl konzipiert?", "Gewicht?", "Besonderheiten?", "Schnürung?") beantworten und einen Namen erfinden.

Foto: thomas rottenberg

Die Ergebnisse waren – äh – interessant. Ich drückte mich: Ich kann nicht zeichnen. Stattdessen schrieb ich eine Lieblingsstelle aus Antoine de St.Exuperys "Kleinem Prinzen" aufs Zeichenblatt: "Zeichne mir ein Schaf", fordert da der Kleine Prinz vom Piloten – und der zeichnet eine Kiste. Das Schaf, erklärt er, sei in der Kiste.

Den Schuh (der im Frühjahr 2021 rauskommen soll und der die Trail-ExpertInnen ziemlich erregte) nannte ich "Cloud Prince". Tatsächlich heißt er natürlich anders – aber sich an Sperrfristen zu halten ist eben auch "part of the game" solcher Trips.

Foto: thomas rottenberg

Während wir Schuhe befummelten, rannte Pau Capell irgendwo im weiteren Umland seiner eigenen Bestzeit nach. Begleitet von Staffelläufern. Eine der Übergabestellen lag eine zweistündige Wanderung oberhalb der Wasserfall-Hütte. Eigentlich hätten wir den Läufer dort anfeuern sollen.

Eigentlich: Waren wir beim Morgenlauf noch trocken geblieben, schüttet es nun. So wie vom Wetterbericht angekündigt. Capell, wussten wir, lag trotzdem noch in der Zeit. Aber auch wenn er zurückgelegen wäre, hätten wir uns trotz Starkregens auf den Weg gemacht.

Foto: Justin Galant

Denn was professionelle Outdoor-Freaks und Trail-SchreiberInnen von den meisten Insta-Foto-Posern unterscheidet, ist, dass sie die plötzlich nicht mehr nebensächliche High-End-Ausrüstung nicht nur auf der Wiese vor dem Hotel dabeihaben, sondern wissen, wie man einen Rucksack packt, und bei jedem Wetter gerne draußen sind.

Und Zeug auch unter jenen Bedingungen verwenden, für die es gemacht ist: Neben den orangen, für nicht-folierte Schlapfen ziemlich wasserabweisenden Schuhen war auch die wasserfeste Hose im Bild im Test-Gear-Paket gewesen. Sauteuer (239,95 Euro) – aber tatsächlich wasserdicht und doch atmungsaktiv. Warum man bei einem ansonsten super "performenden" Ding dann keine Kordel einzieht, um es am Bund justierbar zu machen, gehört zu den ungelösten Mysterien des Produktentwickelns.

Foto: Justin Galant

Regen, Wind und Gatsch sind das eine. Ein Gewitter in den Bergen aber etwas ganz anderes. Als wir uns der Baumgrenze näherten, begann es zu donnern. Noch nicht wirklich nah – aber das kann am Berg sehr schnell gehen: Der Fehler, sich wegen guter oder bester Ausrüstung für unverwundbar zu halten, kann gefährlich werden. Richtig gefährlich. Und auch wenn oben ein Profi seinen eigenen Rekord jagt und selbst entscheiden muss, wann er aufhört, ist das mit einer Gruppe – auch wenn sie geschult ist – etwas anderes. Wir drehten um. Schweren Herzens – aber mit guten Gründen.

Denn die Berge, hat mir der Stubaitaler Bergführer Patrick Ribis einst eingebläut, "sind nicht nur wunderschön, sondern auch morgen noch da. Aber es ist deine Entscheidung, ob du es auch bist." Egal ob beim Traillaufen, Wandern, Bergsteigen, Klettern oder Skitourengehen.

Foto: thomas rottenberg

Epilog

Pau Capell hat die Sub-20 nicht geschafft und auch seinen eigenen Streckenrekord um rund eine Stunde verfehlt. Er kam nach 21 Stunden 17 Minuten und 18 Sekunden wieder in Chamonix an.

Ich war nicht dabei: Ich saß da schon fast im Zug nach Basel – auf dem Weg zum nächsten Regenlauf.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Richtlinien: Die Reise nach Chamonix und der Aufenthalt dort waren eine Einladung von On Running. Die Anreise erfolgte mit dem Flugzeug, die Rückreise per Bahn.

(Thomas Rottenberg, 2.9.2020)

Foto: thomas rottenberg