Wissenschafter der Goethe-Universität Frankfurt haben eine mögliche Achillesferse von Sars-CoV-2 gefunden.

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Die medizinische Forschung hat noch nie so geboomt wie seit dem Zeitpunkt, an dem Sars-CoV-2 weltweit in Umlauf kam. "Innerhalb der letzten sechs Monate wurden etwa 36.000 Publikationen zum neuen Coronavirus veröffentlicht. Und viele weitere kreisen noch unveröffentlicht im Forschungsorbit", sagt Günter Weiss, Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin VI mit den Schwerpunkten Infektiologie, Immunologie, Rheumatologie und Pneumologie in Innsbruck.

So wird unter anderem händeringend nach Wirkstoffen gesucht, die die Infektion von Zellen und die Virusvermehrung verhindern können. Daran arbeiten auch Mediziner der Yale School of Medicine und des biopharmazeutischen Unternehmens AI Therapeutics. Die Ergebnisse ihrer multizentrischen Studie wurden kürzlich in "Nature" veröffentlicht.

Die US-Forscher haben mehr als 13.000 Medikamente auf ihre antivirale Wirkung gescreent. Das Screening erfolgte mit zwei Stämmen lebender Coronaviren. Als am wirksamsten entpuppte sich eine Substanz namens LAM002A, auch als Apilimod bekannt. Sie soll das Virus daran hindern, in die Zelle einzudringen und sie zu infizieren.

Ein zweischneidiges Schwert

Eine klinische Phase-II-Studie soll demnächst beginnen. Teilnehmen werden 142 frisch mit Covid-19 diagnostizierte Patienten. Zweck dieser Studie ist es, die Unbedenklichkeit von LAM002A zu zeigen und zugleich nachzuweisen, dass der Wirkstoff die Viruslast bei infizierten Personen verringern kann. "Von den Daten her ist LAM002A eine interessante Substanz. Bei einer Infektion mit dem Coronavirus kann es aber ein zweischneidiges Schwert sein", warnt Weiss.

Der Innsbrucker Mediziner hat gute Gründe für diese Aussage: LAM002A hemmt einerseits in der Zelle die Bildung von kleinen, mit Virusmaterial beladenen Bläschen, auch als Vesikel bezeichnet. Sie schnüren sich von der Zellmembran ab und wandern samt ihrer Fracht weiter ins Zellinnere hinein. "Es handelt sich vermutlich um ein generelles Prinzip, wie Viren, zum Beispiel auch Ebola-Viren, Zellen infizieren." Wird die Bläschenbildung unterdrückt, bleibt das Virus draußen, was auch die Virusvermehrung hemmt. Genau das möchte man ja erreichen.

Aber das LAM002A hat eine zweite Seite: "Es verringert die Immunantwort, indem es die Bildung von Botenstoffen der Zellen des Immunsystems – wie einige Interleukine und Interferon gamma – reduziert. Und das ausgerechnet bei einer Virusinfektion, die ein ausgesprochen gut funktionierendes Immunsystem erfordert", so Weiss.

Geschwächte Immunabwehr

Darüber hinaus hemmt es die Präsentation von Antigenen auf der Zelloberfläche bestimmter Immunzellen. Das ist aber der Weg, wie zum Beispiel T-Lymphozyten über die feindliche "Übernahme" informiert werden, woraufhin diese die befallene Zelle eliminieren. "Wird dieser Prozess von Apilimod blockiert, dann schwächt dies die Immunabwehr", so Weiss.

"Deshalb wäre es eigentlich sehr wichtig, vor einer Studie am Menschen abzuklären, welcher der beiden Effekte die größere Rolle spielt: die erwünschte Hemmung der Virusvermehrung in einer frühen Phase oder der unerwünschte negative Effekt auf die Immunantwort.

Dass Apilimod grundsätzlich beim Menschen einsetzbar ist, hat sich im Zusammenhang mit der Therapie von Autoimmunerkrankungen und dem Follikulären Lymphom bereits gezeigt. "Möglicherweise deutet dies auch an, dass Apilimod zur Therapie überschießender Immunreaktionen, einem sogenannten Zytokinsturm, bei Covid-19 geeignet sein könnte", spekuliert Weiss. "Wir untersuchen derzeit, ob häufig auftretende Genvarianten mit leicht veränderter Basenabfolge der DNA, die normalerweise keine Folgen haben, bei diesem Zytokinsturm eine Rolle spielen."

Apilimod und Remdesivir als Team

Die US-Forscher erwägen, LAMOO2A in Kombination mit dem virushemmenden Medikament Remdesivir einzusetzen. Der Einsatz im Kombipack soll angeblich die antiviralen Eigenschaften von Remdesivir verstärken. Remdesivir hemmt die Virusvermehrung, indem es die virale "Kopiermaschine" (RNA-Polymerase) blockiert. Das Virus benötigt sie, um sich zu vervielfältigen.

Weiss ist jedoch von der Wirksamkeit von Remdesivir bei Covid-19 nicht überzeugt: "Remdesivir ist als antivirales Medikament nicht der große Knaller." Aus den USA stammende Daten belegen zwar eine verkürzte Erkrankungsdauer; eine hochrangig publizierte chinesische Studie hat jedoch keinen therapeutisch positiven Effekt für Remdesivir gefunden. Weiss vermutet, dass die Zulassung von Remdesivir für die Therapie von Covid-19 aus politisch-ökonomischen Gründen gepusht wurde.

Die FDA hat Remdesivir zur Behandlung bei Covid-19 zugelassen, obgleich damit, so der Innsbrucker Mediziner, nur kleine Effekte erzielbar sind. "Die US-Daten sollten im Rahmen einer randomisierten Studie zunächst verifiziert werden", sagt Weiss.

Inhibitoren im Höhenflug

Wissenschafter der Goethe-Universität Frankfurt haben eine mögliche Achillesferse von Sars-CoV-2 gefunden. Wenn das Virus in eine Zelle eindringt, sie also infiziert, übernimmt es das Kommando. Es lässt fortan die Zelle für sich arbeiten. Diese produziert nur noch Virusproteine, damit möglichst viele neue Viren entstehen können, die dann weitere Zellen infizieren.

Eines der hergestellten Proteine ist das Virusprotein PLpro (papain-like protease) wie die Forscher in Zellkulturen beobachten konnten. Proteasen sind Enzyme, die größere Proteine spalten können. Die Protease PLpro hat zwei Funktionen: Sie wird gebraucht, um einzelne Virusproteine aus einem neu hergestellten Virusproteinverband abzuspalten und freizusetzen. Außerdem hemmt PLpro die Bildung von antiviral wirksamen und immunstimulierenden Proteinen, den Interferonen. Infizierte Zellen können nämlich erkennen, dass sich fremde Nukleinsäure, der Speicher der Virus-Erbinformation, in ihrem Inneren befindet, sie folglich infiziert sind. Das veranlasst sie, Interferone zu produzieren.

Nachbarzellen warnen

Die sollen nicht nur die Virusvermehrung in der infizierten Zelle hemmen, sondern auch noch gesunde Nachbarzellen vor den Viren warnen, sodass die Nachbarzellen wirksame Gegenmaßnahmen aktivieren können. Killerzellen der angeborenen Abwehr werden dank der Interferone auf die virusinfizierte Zelle aufmerksam und beseitigen diese. Wenn es möglich wäre, das PLpro zu blockieren, ließe sich die Virusvermehrung hemmen.

Den Frankfurter Wissenschaftern gelang dies mit einer Verbindung namens GRL-0617. Da es sich bei PLpro um eine Protease handelt, spricht man bei GRL-0671 von einem Protease-Inhibitor. Und dieser ist weltweit nicht der einzige Kandidat. "Gerade bei den Protease-Inhibitoren gibt es derzeit viele interessante Ansätze. Wir sind optimistisch", sagt Weiss. (Gerlinde Felix, 20.9.2020)