Maria Hofmarcher-Holzhacker ist Ökonomin und Expertin für Gesundheitssysteme. Ihre berufliche Laufbahn begann als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften, absolvierte eine Ausbildung zum Master of Public Health an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore und ist Geschäftsführerin des Forschungsinstituts Health System Intelligence mit Sitz in Wien.

Foto: Cremer

Seit Jahren wird Österreichs Gesundheitssystem als eines der besten der Welt gelobt. Die Corona-Pandemie war in gewisser Weise eine Bewährungsprobe, doch die Gesundheitsversorgung ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Seit vielen Jahren analysiert Maria Hofmarcher-Holzhacker die allgemeine Situation der Gesundheitsversorgung. Eine hochkomplexe Angelegenheit, denn in Österreich ist das von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. Unterstützt vom Technologie-Konzern Philips veröffentlicht Hofmarcher seit vier Jahren zu den Gesundheitsgesprächen im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach einen Bericht, der aufgrund der Corona-Pandemie ganz besonders spannend ausfiel.

STANDARD: Sie kennen Österreichs Gesundheitssystem in all seinen Details und Facetten so gut wie kaum jemand in Österreich. Warum hat es der Corona-Krise standgehalten?

Hofmarcher-Holzhacker: Es gibt eine einfache Antwort: Die oft beklagte Überkapazität in Österreichs Spitälern – also das Mehr an freien Betten, als wir zu normalen Zeiten brauchen – hat uns gerettet. Diese Überkapazität war in der Krise nervenberuhigend.

STANDARD: Heißt das, dass Effizienz eine Größe ist, die im Gesundheitswesen nicht unbedingt gut ist?

Hofmarcher: Überkapazität zu kritisieren sollte niemand leichtfertig machen. Sie ist zu analysieren, wenn man den Überblick über die gesamte medizinische Versorgung der Bevölkerung hat, also nicht nur über den Spitalsbereich, sondern auch über den niedergelassenen Bereich. Geschätzt arbeiten etwa 60.000 Personen im ambulanten Sektor, das sind 15 Prozent der Gesamtbeschäftigung im Gesundheitswesen. Sie tragen maßgeblich zu einer guten Versorgung bei.

STANDARD: Welches Bundesland macht es besonders gut?

Hofmarcher: Oberösterreich hat sehr gut in unserer Studie abgeschnitten, und das ist erstaunlich. Denn es ist das Bundesland mit einem extrem großen Spitalssektor, also jenem Bereich, der eigentlich als sehr teuer gilt, die Gesamtausgaben in Oberösterreich gehören jedoch zu den niedrigsten. Dort gibt es einen Mix an öffentlichen Spitälern und gemeinnützigen Häusern, die die ambulante fachärztliche Versorgung übernehmen. Die Anzahl der Kassenärzte und -ärztinnen in Oberösterreich ist gering.

STANDARD: Sind die Menschen denn dort auch gesund?

Hofmarcher: Das war eine zentrale Frage in unserer Studie, die wir auch berücksichtigt haben. Ein Parameter, der die Gesundheitsversorgung in Relation mit der allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung in Verbindung setzen kann, ist die vermeidbare Sterblichkeit vor dem 75. Lebensjahr. Das war auch unser wichtigster Qualitätsindikator in der Betrachtung der verschiedenen Bundesländer. Ein Spiegelindikator dazu ist die gesunde Lebenserwartung. Daneben haben wir aber auch eine Reihe anderer Indikatoren und soziodemografische Daten berücksichtigt.

STANDARD: Und?

Hofmarcher: Die Ergebnisse bestätigen sich jedes Jahr neu. Die Menschen im Westen sind tendenziell gesünder.

STANDARD: Weil dort mehr Geld für Gesundheit ausgegeben wird?

Hofmarcher: Nicht unbedingt. Eines der vielen erstaunlichen Ergebnisse ist die Tatsache, dass Vorarlberg im Vergleich zu anderen Ländern viel Geld für die Gesundheitsversorgung ausgibt, aber in unserer Studie nicht so besonders gut abschneidet.

STANDARD: Woran liegt das?

Hofmarcher: Es gibt in Vorarlberg vergleichsweise viele Leute, die rauchen. Und in Relation auch nicht wenige, die von Armut betroffen sind. Armut macht krank. Das wissen wir. In Vorarlberg gehen die Menschen offenbar sehr wenig zu Ärzten und Ärztinnen. Bei chronischen Erkrankungen wirkt sich das auf die Lebenserwartung aus. Genau das zeigt der Parameter in unserer Studie.

STANDARD: Ist Gesundheitsversorgung also keine Geldfrage?

Hofmarcher: Die entscheidende Frage scheint zu sein, wie das Geld investiert wird. In Niederösterreich wurde in den letzten Jahren stark in die Gesundheitsversorgung investiert, also mehr als in anderen Bundesländern, und die Folgen sieht man. Denn an sich ist die Gesundheit der Menschen im Osten Österreichs ja tendenziell schlechter, auch die Armutsgefährdung ist höher als im Westen. Wie gesagt, Vorarlberg ist da eine Ausnahme. In Niederösterreich sieht man aber, dass sich die Investitionen in Gesundheit lohnen.

STANDARD: Wie sieht es in einer großen Stadt wie Wien aus?

Hofmarcher: Wien investiert sehr stark in Gesundheit, und man sieht das auch in unserer Studie. Die Qualität der Versorgung in Bezug auf ärztliche Behandlung ist hoch, und in Relation zur Bevölkerungsstruktur wirkt sich das eindeutig positiv aus. Also: Die Versorgung ist sehr gut, gerade auch im Hinblick darauf, dass es in einer großen Stadt ja besonders viele gefährdete und arme Menschen gibt. Nachholbedarf gibt es bei der Prävention, also bei Maßnahmen, die Erkrankungen vermeiden.

STANDARD: Also geht es darum, dass die Menschen die Möglichkeit haben, zum Arzt zu gehen?

Hofmarcher: Es kommt darauf an, ob das Angebot breit aufgestellt und ausreichend groß ist. Die gute kassenärztliche Versorgung ist der wichtigste Grundpfeiler, weil es den Menschen die Möglichkeit gibt, Beschwerden auf eine schnelle und unkomplizierte Art abklären zu lassen. Doch die Leute können natürlich auch ins Spital gehen oder eine fachärztliche oder wahlärztliche Abklärung wählen.

STANDARD: Ist diese Vielfalt gut?

Hofmarcher: Theoretisch ja. Fakt ist, dass die kassenärztliche Versorgung schrumpft und die wahlärztliche zunimmt. Das heißt: Immer mehr Ärzte oder Ärztinnen entscheiden sich gegen einen Vertrag mit den Kassen. Doch Wahlärzte muss man sich leisten können. Und das kann nur die eher gutverdienende Minderheit. Die Mehrheit der Leute kann das Geld für einen Wahlarztbesuch aber nicht aufbringen. Das betrifft aber tendenziell jene, die eine medizinische Versorgung dringender brauchen, weil sie belasteter und damit auch kränker sind.

STANDARD: Was genau bedeutet Belastung?

Hofmarcher: Armut und damit Existenzbedrohung, etwa durch Arbeitslosigkeit, die in der Corona-Pandemie steigt.

STANDARD: Ist also das Wahlärzte-Modell schlecht?

Hofmarcher: Ja, denn es bringt das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem, das uns jetzt in der Covid-Krise gerettet hat, in Gefahr. Ich denke, es ist hoch an der Zeit, gegen diesen Trend der Privatisierung eine Reformagenda zu entwickeln. In unserer Studie haben wir Vorschläge ausgearbeitet. Verträge mit den Krankenkassen müssen wieder attraktiver werden.

STANDARD: Können Sie ein paar Eckpunkte nennen?

Hofmarcher: Die Verträge sollten großzügiger werden, die Primärversorgung muss ausgebaut werden. In den Primärversorgungszentren arbeiten die Ärzte zusammen. Noch wichtiger ist, dass andere wichtige Gesundheitsberufe eingebunden sind, insbesondere bei der Betreuung von chronisch kranken Menschen. Es ist eine zeitgenössische Form der hausärztlichen Versorgung. In diesen neuen Primärversorgungszentren können auch die Aufgaben viel besser verteilt werden, auch zeitlich wäre das gut. Das wäre vor allem für die Medizinerinnen wichtig.

STANDARD: Gibt es ein Gender-Problem?

Hofmarcher: Absolut. Frauen haben eine tragende Rolle in der medizinischen Versorgung. Der Anteil der Frauen in der Medizin beträgt 50 Prozent, nur 15 Prozent haben einen Kassenvertrag. Frauen haben Familien, müssen sich ihre Zeit einteilen und brauchen Arbeitsmodelle, bei denen sie Job und Familie vereinbaren können.

STANDARD: Machen wir einen Themenwechsel: Die Corona-Pandemie wird viel Geld kosten. Haben Sie eine Vorstellung, was das für die Zukunft bedeutet?

Hofmarcher: Das Gesundheitswesen wird mit den Beitragszahlungen der Sozialversicherung und Steuerbeiträgen finanziert. Wir rechnen mit einem Verlust von 1,1 Milliarden Euro. Doch die Kosten für die Gesundheitsversorgung bleiben gleich. Dieses Loch gilt es zu stopfen. In den 1,1 Milliarden nicht enthalten sind die Kosten, die in den letzten Monaten für Schutzausrüstung, Personalkosten, bauliche Umstrukturierungen angefallen sind. Das wird von den einzelnen Bundesländern organisiert und wird noch einmal 2,5 Milliarden Euro ausmachen.

STANDARD: Was bedeutet das?

Hofmarcher: Eine gute Gesundheitsversorgung ist gerade in einer Krise extrem wichtig. Denn Krise bedeutet für viele zum Beispiel Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass Armut tendenziell krank macht. Das ist evidenzbasiert. Ich hoffe also, dass die Bundesregierung die Corona-Pandemie aktiv nutzt, und jetzt bei der Gesundheitsversorgung nicht spart, sondern gerade jetzt investiert. Es ist wichtiger denn jemals zuvor.

STANDARD: Haben Sie eine Idee?

Hofmarcher: Die längst überfällige Anpassung der Leistungen zwischen Österreichischer Gesundheitskasse und der Krankenkasse der Beamten, die gesundheitlich viel besser versorgt sind. Das wäre ein Anfang.

STANDARD: Investition in Gesundheit als Mittel gegen den Wirtschaftsabschwung? Ist nicht einfach zu verstehen.

Hofmarcher: Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist konstant und damit auch die Ausgaben. Und gerade weil die Menschen durch die Pandemie tendenziell öfter arbeitslos werden, führt eine gute Versorgung dazu, dass sie mit dieser Krise gut umgehen und auch tendenziell schneller wieder in eine Beschäftigung kommen. Eine gute Gesundheitsversorgung ist ein stabilisierender Faktor. Das heißt: Der Wirtschaftsabschwung wird gemildert, wenn in Gesundheit investiert.

STANDARD: Ein Knackpunkt in der Pandemie war die Pflege. Wie sehen Sie diesen Bereich?

Hofmarcher: Wir sollten Pflege ganz neu denken. Wir brauchen einen strategischen Plan. Pflege muss integriert betrachtet werden, zusammen mit der Gesundheitsversorgung. Pflege ist, politisch betrachtet, ja auch eine Möglichkeit, Beschäftigung zu sichern, vor allem die Beschäftigung von Frauen, die durch die Corona-Pandemie am meisten gelitten haben.

STANDARD: Sie sehen jedes Jahr wieder die Zahlen an. Was wäre ein gutes Zeichen?

Hofmarcher: Die entscheidende Frage wird sein: Welches Bundesland schafft es, den ambulanten Bereich auszubauen? Ambulant heißt: Primärversorgung, heißt aber auch Mittel für die Spitalsambulanzen und Mittel für mobile Pflege. Es wäre gut, wenn dafür ein eigener Finanzierungstopf geschaffen würde, der über die Zielsteuerungskommissionen der einzelnen Bundesländer verteilt würde.

STANDARD: Warum?

Hofmarcher: Weil sich jedes einzelne Bundesland damit auch die Freiheit einer sehr regionalen Gestaltung bewahrt. Gerade in der Covid-Krise hat sich gezeigt, dass diese Flexibilität enorm wichtig ist. Dort sollten wir es schaffen, die jetzt getrennten Bereiche von Spital und niedergelassenem Bereich stärker gemeinsam zu denken. Das wäre ein Riesenfortschritt. (Karin Pollack, 3.9.2020)