Gerd Antes ist Mathematiker und Biometriker. Er war Gründungsmitglied des Netzwerks für evidenzbasierte Medizin.

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Man wisse nicht, wieso Österreich in der Krise vergleichsweise gut davongekommen ist, sagt Gerd Antes. Die erfolgten Maßnahmen und Schließungen als Ursache dafür anzusehen hält er für nicht richtig.

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STANDARD: Der österreichische Gesundheitsminister glaubt, dass es bereits im Jänner eine Impfung gegen Covid-19 geben wird. Ist das realistisch?

Antes: Die Aussage passt ins heutige Bild: Es wird "geglaubt", und der uns täglich begegnende Glauben ist geprägt von chronischem Überoptimismus anstatt von nüchterner Abwägung. Ob es den Impfstoff im Jänner geben wird, ist fraglich. Noch fraglicher ist, welche Wirksamkeit er haben wird. Er wird sicher nicht 100-prozentig wirken, und damit sind wir nicht zurück in der Normalität, sondern haben eine weitere Gegenmaßnahme, die die Lage verbessert. Kein bisschen mehr.

STANDARD: Österreich und Deutschland sind bisher in der Corona-Krise vergleichsweise gut davongekommen. Warum?

Antes: Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht wissen, wieso das gelungen ist. Angesichts der enormen Bedrohung von Gesundheit, Ökonomie und sozialen Strukturen sollte man eigentlich erwarten, dass das Verständnis der einzelnen Maßnahmen des Lockdowns unverzüglich und mit absoluter Fokussierung zu einem zentralen Ziel von Politik und Wissenschaft würde. Genau das ist jedoch weder in Deutschland noch in Österreich geschehen, auch wenn ein solcher Schein aufrechterhalten wurde.

STANDARD: Was hätte Ihrer Ansicht nach geschehen sollen?

Antes: Idealerweise hätte man alle weltweit relevanten Studien gesammelt und Aussagen zur Wirksamkeit, den Risiken und den Kosten der Maßnahmen analysiert und bewertet. Das ist heute Standard jeder wissenschaftlichen Technikfolgenabschätzung. Die Realität war jedoch eine andere.

STANDARD: Gab es im Frühjahr vor dem Lockdown bereits gute Studien?

Antes: Es gab fast keine geeigneten Studien und, noch wesentlicher, keine Zeit, die etwas anderes als den erfolgten Lockdown als Schockreaktion zuließ. Das ist auch nachträglich zu rechtfertigen, zumindest aber nachzuvollziehen, und kann unter den gegebenen Bedingungen als richtig gelten. Nicht richtig ist jedoch, die erfolgten Maßnahmen und Schließungen als Ursache dafür anzusehen, dass Österreich und Deutschland so glimpflich davongekommen sind.

STANDARD: Wo zeigen sich die Wissenslücken besonders?

Antes: Gerade die vielfältigen nationalen Vergleiche suchen bis heute vergeblich nach schlüssigen Erklärungen für die unterschiedlichen Infektions- und Sterbezahlen. Besonders sichtbar ist das zum Beispiel bei den unterschiedlichen Vorschriften zum Maskentragen in Österreich, Deutschland, Dänemark und Schweden. Weder die Wissenschaft noch die Politik haben dazu beigetragen, dass heute ein stabiles Wissensgerüst bezüglich des Einsatzes von Masken, Abstand halten, Desinfektion und Testen existiert. Hier sehen wir eine weitgehende bis völlige Konzeptlosigkeit. Das wirkt eher wie ein Bermudadreieck des Erkenntnisgewinns denn als Quelle für belastbares Wissen für notwendige, einschneidende Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betreffen. Das häufige Ändern der Vorschriften ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit.

STANDARD: Wer versagt hier – die Wissenschaft oder die Politik?

Antes: Sowohl als auch. Wissenschaft und Politik funktionieren seit Ausbruch von Covid-19 weder allein noch in der Kooperation miteinander. Auch wenn der Schein aufrechterhalten wird. Offensichtlich ist etwa die Verletzung wissenschaftlicher Standards bei der Präsentation von Studienergebnissen bei Pressekonferenzen – noch bevor die Ergebnisse in einer frühen Version der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Als Argument für solche Schritte wird immer wieder Zeitmangel herangezogen, dem in der gegenwärtigen Situation eine alles dominierende Rolle zugestanden wird.

STANDARD: In der Zwischenzeit gibt es bereits viele Studien zu Covid-19. Was ist der Erkenntnisgewinn?

Antes: Es gibt eine ungeheure Zahl an Forschungsprojekten, Studien und wissenschaftlichen Unternehmungen, die mehr oder weniger in einem Massenstart auf den Parcours gegangen sind. Eine australische Plattform hat aktuell mehr als 16.000 Studien und Zusammenfassungen zum Thema Corona gelistet, allein in der vergangenen Woche sind 853 hinzugekommen. Das ist sehr beeindruckend, gleichzeitig ist es selbst für Expertinnen und Experten fast unmöglich, sich einen sicheren Überblick zu verschaffen. Am dramatischsten finde ich jedoch, dass alle Teile dieser Forschungslawine unkoordiniert und ohne Blick auf laufende oder geplante Studien initiiert wurden. Viele Resultate werden mehrfach produziert, während andere Fragen nicht beantwortet werden. Das ist Verschwendung.

STANDARD: Besonders bei der hektischen Suche nach geeigneten Medikamenten und Impfstoffen spielt der Zeitfaktor eine bedeutende Rolle. Welche Gefahren sehen Sie hier?

Antes: Hier sind die Möglichkeiten der direkten politischen Einflussnahme noch ungleich größer. Das Einfallstor bilden die Zulassungsverfahren mit ihren regulatorischen Prozessen, wo per Anordnung unverzichtbare Schritte der Entwicklung übersprungen werden. Das ist gegenwärtig bei der Impfstoffentwicklung in Russland wie auch in China zu beobachten, während die US-Regierung direkten Einfluss auf die nationale Zulassungsbehörde wie auch auf das Center of Disease Control and Prevention nimmt, um Notfallzulassungen zu begünstigen oder Labortests jeglicher Überprüfung zu entziehen. Diese Vorgänge sind äußerst bedenklich. Die Zulassungsroutinen sind das Ergebnis jahrzehntelanger Entwicklung, um das Verhältnis von Nutzen und Risiko oder Schäden zu optimieren. Jeder unqualifizierte Eingriff in diese Prüfschritte birgt enorme Gefahren für Probanden in Studien und später die Patientinnen und Patienten. Sie können aber auch zu sehr zeitraubenden Rückschlägen führen, wenn etwa durch Impfschäden nicht nur die Entwicklung ein Irrweg war, sondern daraus verheerende Auswirkungen auf die Impfbereitschaft folgen.

STANDARD: Offenbart Corona eine Krise der Wissenschaft?

Antes: Die Pandemie hat auch in Wissenschafterkreisen gewisse Verhaltensweisen merklich geändert: Es gibt einen deutlichen Hang zur Lagerbildung, wo Glauben statt Wissen die Zugehörigkeit bestimmt. Auch unter den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern selbst sind die Sitten verroht. Öffentliche Aufforderungen, einen Artikel zurückzuziehen, sind nicht die Ausnahme. Auch hier wird der Boden dafür in der Wissenschaft selbst gelegt: Politikerinnen und Politiker präsentieren Ergebnisse auf Pressekonferenzen, bevor auch nur ein halbwegs akzeptabler Report geschrieben wurde. Das erweist sich als klarer Bärendienst. Einmal gelangen Ergebnisse zu früh in die öffentliche und damit politische Diskussion und damit in die Entscheidungen zu Schließungen und Öffnungen. Das ist besonders schädlich, wenn es verfrüht geschieht und von Forschenden aus Eigennutz geschieht und Grundregeln der Wissenschaftlichkeit verletzt werden. Diese Vermischung von Rollen führt zu Irritationen, Missverständnissen und schädlicher Wahrnehmung in der Öffentlichkeit – und damit zur Schädigung der Wissenschaft.

STANDARD: Was ist zu tun?

Antes: Auch nach einem halben Jahr verschwendeter Zeit ist es nicht zu spät, jetzt alle Energie in eine kompetente Begleitforschung zu investieren. Wir brauchen eine belastbare empirische Basis für die Steuerung der Gegenmaßnahmen. Wir müssen die Konsequenzen unterschiedlicher Szenarien bestimmen können, damit die Politik brauchbare Entscheidungsgrundlagen bekommt. Das darf nicht aus Expertendiskussionen in Talkshows kommen, sondern muss sich in transparenter Weise auf empirisch ermittelte Daten zu den Auswirkungen einzelner Schließungsmaßnahmen gründen. Ob ich nach einer Reise fünf oder neun Tage in Quarantäne soll, hat enorme menschliche und ökonomische Auswirkungen und sollte nicht auf Bauchgefühl gegründet sein. (Andrea Fried, 1.9.2020)