Eine von einem Selbstmordattentäter herbeigeführte Explosion an einem Regierungscheckpoint im Westen von Tripolis erinnerte am Dienstag die Bewohner der libyschen Hauptstadt daran, dass der Krieg nie weit ist: Das große Ringen um die Zukunft des Landes konzentriert sich momentan zwar auf die Stadt Sirte, gelegen auf etwa dem halben Weg nach Bengasi im Osten. Aber in Tripolis hat sich in den vergangenen Tagen ein neuer Konflikt aufgetan, innerhalb der international anerkannten und von der Türkei militärisch unterstützten Regierung von Fayez al-Serraj und den Milizen an ihrer Seite.

Bild nicht mehr verfügbar.

Anhänger des suspendierten Innenministers Fathi Bashaga demonstrieren in dessen Heimatstadt Misrata gegen die Regierung von Fayez al-Serraj. Damit kommt zu den bisherigen Konflikten in Libyen ein neuer.
Foto: Reuters / Ayman Al-Sahili

Das Problem hat zwei Facetten: erstens die Frustration der Menschen, die am 23. August auf die Straße gingen, um gegen Korruption und ihre sich stetig verschlechternden Lebensbedingungen zu demonstrieren. Dass einerseits eine mächtige Miliz von Tripolis, die Nawasis, einige der Demonstranten verschleppte und sich andererseits Innenminister Fathi Bashaga auf die Seite der Protestierenden stellte, entwickelte sich zum Politikum mit militärischem Eskalationspotenzial.

Entmachtungsversuch?

Serraj suspendierte Bashaga, der überraschend in die Türkei gefahren war – was als Versuch interpretiert wurde, sich dort als Alternative zu Serraj zu präsentieren. Bashaga stammt aus Misrata, sein Hintergrund ist die Misrata-Miliz, die mächtigste der westlichen Milizen. Die Anhänger Bashagas lassen sich dessen Entmachtung nicht so ohne weiteres gefallen: In Misrata wurde protestiert, Misrata-Milizionäre forderten in Tripolis die Nawasi-Miliz heraus.

Serraj reagierte mit einer Serie von beschwichtigenden sozialpolitischen Dekreten und einer Regierungsumbildung, wobei er neben dem Verteidigungsministerium auch die Armeespitze neu besetzte – was manche als Angst des Regierungschefs vor einem Putsch deuten.

Die Regierung Serraj ist das Produkt einer Uno-Vermittlung im Jahr 2015: Sie sollte eine "Regierung der nationalen Übereinkunft" sein, wurde jedoch von Ostlibyen unter dem starken Mann General Khalifa Haftar nie akzeptiert.

Im April 2019 eröffnete Haftar eine Offensive auf Tripolis, die jedoch im Juni 2020 wegen Erfolglosigkeit endgültig abgeblasen werden musste. Haftars Angriff hatte dazu geführt, dass sich die zuvor stets bekriegenden westlichen Milizen, die der schwache Serraj nie unter Kontrolle bekam, geschlossen hinter diesen stellten. Es überrascht nicht, dass der Konsens der Milizen nach dem Ende der Offensive Haftars nun wieder am Zerbrechen ist.

Absetzbewegung von Haftar

Auch Haftar ist geschwächt – aber noch nicht gebrochen. Allerdings zeigt sich eine Absetzbewegung von dem 76-Jährigen, der unter Machthaber Muammar al-Gaddafi General wurde und später mit der CIA kooperierte. Haftar wurde in seinem als "Kampf gegen Islamisten" deklarierten Kampf gegen Tripolis von Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, aber auch von Frankreich unterstützt. Das militärische Blatt wendete sich, als die Türkei zugunsten von Tripolis eingriff.

Nun haben sich jedoch Ankara und Kairo, die in Libyen auf unterschiedlichen Seiten stehen und auch sonst schwer verfeindet ist, für einen Waffenstillstand in Sirte ausgesprochen: Er wurde vor knapp zwei Wochen gleichzeitig von Serraj in Tripolis und von Aguila Saleh, dem Präsidenten des östlichen Parlaments, verkündet. Haftars NLA (Nationale Libysche Armee) steht in Sirte beziehungsweise im südlich davon liegenden Verwaltungsbezirk Jufra, wo die Fronten eingefroren werden sollen. Die politische Entscheidung Aguila Salehs hat Haftar bisher nicht anerkannt. In Sirte wurde zuletzt nicht mehr gekämpft, laut Tripolis lässt Haftar jedoch vermehrt Söldner hinbringen und geht gegen die Bevölkerung vor.

Sirte als "rote Linie"

Die ägyptisch-türkische Übereinkunft über das Einfrieren der Sirte-Jufra-Linie war ein halbes Wunder: Präsident Abdelfattah al-Sisi hatte sie als "rote Linie" bezeichnet, die Serraj und seine türkischen Unterstützer nicht überschreiten dürfen, und sich beim Parlament grünes Licht für ein militärisches Eingreifen in Libyen geholt. Was jedoch wie ein Durchbruch aussieht, ist – einmal ganz abgesehen von der Ablehnung durch Haftar – nur der Beginn eines schwierigen Prozesses.

Demnach sollten Gebiete an der Linie in Zentrallibyen entmilitarisiert werden. Die Details, wer sich wohin zurückzieht, sind aber noch offen. Ein großer Brocken ist auch die Kontrolle der Ölfelder und -anlagen: Durch die Blockade hat Libyen bereits etwa acht Milliarden US-Dollar an Öleinnahmen verloren.

Immerhin gibt es eine nach der Berliner Libyen-Konferenz im Jänner eingerichtete, von beiden Seiten besetzte Militärkommission, die in Verhandlungen eintreten kann. Aber Serraj und Saleh trennen auch politische Vorstellungen: Ersterer etwa will bereits Wahlen im März, Letzterer wünscht sich eine Übersiedlung der Regierung von Tripolis nach Sirte und eine Reform des durch das Skhirat-Abkommen 2015 geschaffenen Präsidentschaftsrates, in dem sich Ostlibyen nie wirklich vertreten fühlte. (ANALYSE: Gudrun Harrer, 2.9.2020)