Alex Pentland gilt als Visionär, was digitale Technologien angeht. Jetzt will er den großen Datenkonzernen die Stirn bieten.
MIT

Er experimentierte bereits vor 30 Jahren mit tragbaren Geräten, die Daten über das Verhalten von Menschen aufzeichnen, war am Aufbau des renommierten MIT Media Lab in Cambridge, Massachusetts, beteiligt und wurde vor einigen Jahren von "Forbes" als einer der sieben wichtigsten Computerwissenschafter der Welt genannt. Alex "Sandy" Pentland publiziert unentwegt, hat dutzende Firmen gegründet, berät unter anderem den UN-Generalsekretär und ist im World Economic Forum aktiv. Bei den Technologiegesprächen in Alpbach – organisiert von AIT und Ö1 in Kooperation mit Wissenschafts-, Wirtschafts- sowie Klimaschutzministerium – hielt er eine Onlinekeynote.

STANDARD: Sie sagen, zentralisierte, einheitliche Optimierung – also die Art und Weise, wie große Teile unserer Gesellschaft organisiert sind – ist ein Rezept für Scheitern und Tod, wenn es darum geht, mit globalen Problemen wie der Covid-19-Pandemie umzugehen. Wie meinen Sie das?

Pentland: Covid-19 ist in jeder Hinsicht ein einzigartiger Umstand. So etwas mit einheitlichen Regeln bewältigen zu wollen kann fatal sein. Ein Beispiel: In den USA ist die Covid-19-Mortalitätsrate in armen Vierteln bis zu viermal höher als in reichen. Das liegt nicht an der medizinischen Versorgung, sondern an einer schlechteren öffentlichen Gesundheit, das heißt, es gibt mehr Übergewichtige, mehr Menschen mit Vorerkrankungen etc. Vor der Pandemie wurde das nicht als großes Problem wahrgenommen. Wenn man die lokalen Daten zur öffentlichen Gesundheit gehabt hätte, hätte man womöglich eine Menge Leben retten können. Gesundheitsfragen müssen den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden – das darf keine zentralisierte Sache sein, wo dir nur geholfen wird, wenn du schon sehr krank bist. Dasselbe gilt für die Wirtschaft, die Verwaltung und viele andere Bereiche.

STANDARD: Was ist die Alternative?

Pentland: Entscheidend ist, dass die Menschen die Kontrolle über ihre Daten bekommen. Die meisten Stadtverwaltungen, Bezirke und Provinzen haben nur überkommene und unvollständige Daten, aufgrund derer sie planen können. Es gibt kaum Wege, rasch zu analysieren, ob eine Maßnahme wirkt. Konzerne wie Google haben dagegen extrem detaillierte Daten. Mit dieser Art von Datenreichtum könnten Gemeinden viel besser identifizieren, welche Infrastruktur es braucht, was wie besteuert werden sollte, wie das Gesundheitssystem, die Schulen verbessert werden könnten. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), an deren Einführung ich mitgewirkt habe, gibt jedem Menschen das Recht auf den Besitz seiner eigenen Daten. Es wird immer darüber diskutiert, dass diese Daten viel Geld wert sind – das ist aber für den Einzelnen nicht viel, vielleicht ein paar Hundert Dollar im Jahr. Viel nützlicher wäre es, wenn es so etwas wie Daten-Kooperativen gäbe, die alle Daten einer Gemeinschaft verwalten, als Grundlage für eine Politik, die den lokalen Bedürfnissen folgt.

STANDARD: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Data Unions, von Datengewerkschaften.

Pentland: Die Analogie dazu sind die ersten Agrargenossenschaften, die im späten 19. Jahrhundert entstanden, als Banken begannen, die Bauern auszubeuten. Als im Zuge der Industrialisierung Unternehmer die Arbeiter ausbeuteten, gründeten sie Gewerkschaften, um über bessere Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln zu können. Das Gleiche können wir heute machen, indem wir Datengewerkschaften etablieren, um einen besseren Deal zu bekommen, von den Unternehmen und auch von den Regierungen, die Daten über uns sammeln.

STANDARD: Wie soll das konkret funktionieren? Werden die Leute auch dafür streiken müssen so wie einst die Arbeiter und Arbeiterinnen?

Pentland: Die DSGVO sieht vor, dass jeder eine Kopie all seiner Daten verlangen kann, von den Suchanfragen bis zu den Bewegungsdaten am Smartphone, einfach alles. Man braucht keine Erlaubnis dafür, aber kaum jemand tut es. Die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen, dass sie gemeinsam die Kontrolle über die Daten zurückgewinnen können. Es ist wie bei den traditionellen Gewerkschaften: Man muss sich zusammentun, um bessere Bedingungen verlangen zu können. Wenn Sie etwa der Stadtverwaltung die Nutzung Ihrer Daten überlassen und diese eine Kooperative einrichtet, die die Daten für Sie hält, muss Google bei der Kooperative um Ihre Daten bitten. Es gilt also, den großen Datenkonzernen eine Konkurrenz zu bieten.

STANDARD: Die Daten einer Gemeinde sollten also öffentliches Gut sein?

Pentland: Genau. Personalisierte Daten sind damit natürlich nicht gemeint. Es sollte ein Pool von aggregierten Daten und deskriptiven Statistiken geben, damit auf deren Basis kollektive Maßnahmen ergriffen werden können. Es braucht natürlich auch umfassenden Datenschutz, sodass etwa nicht ganze Datenbanken weitergegeben werden können, sondern nur bestimmte Anfragen beantwortet werden. So kann man stets die Kontrolle über die Nutzung behalten.

STANDARD: Was genau soll dann mit den Daten geschehen? In Ihrer Neuinterpretation der Soziophysik haben Sie gezeigt, wie sich anhand all unserer digitalen Interaktionen und der Datenspuren, die wir hinterlassen, menschliches Verhalten abbilden und prognostizieren lässt.

Pentland: Das Konzept der Soziophysik stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert und bestand darin, Statistik zu benutzen, um die Gesellschaft zu verstehen. Heute gibt es viel mehr Menschen, schnellere Interaktionen und natürlich viel mehr Daten. Das Konzept braucht also ein Update – einen lokalen, reichhaltigen Zensus. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass Gemeinden durch die Analyse ihrer Daten ihre wirtschaftliche Entwicklung dramatisch verbessern können. Studien haben auch belegt, dass sich Orte, wo die Menschen das Gefühl haben, dass es ein lokales Empowerment gibt, wo die Kontrolle in der Community liegt, auch ökonomisch viel besser entwickeln.

STANDARD: Sie haben als Digitalpionier schon einige Entwicklungen vorausgesehen. Was erwartet uns im nächsten Jahrzehnt?

Pentland: Man kann ein wenig in die Zukunft schauen, wenn man in Länder wie China blickt. Es gibt dort praktisch kein Geld mehr, es wird nur mehr über das Smartphone bezahlt. China ist aber auch eine Warnung, weil die Bürger der Regierung und den Unternehmen erlauben, ihre Daten zu besitzen. Ich stelle mir ein digitales Leben vor, in dem die Menschen selbst Kontrolle über ihre Zukunft erlangen können. Ich denke, es wird letztlich eine Periode geben wie nach dem Zweiten Weltkrieg, in der internationale Organisationen entstanden, um den Wiederaufbau zu stemmen. Ich hoffe, dass wir es schaffen, in Zukunft ein neues internationales Regime einzurichten, das das Lokale erhält, aber viel leichtere und billigere Kooperationen zwischen Ländern ermöglicht, die auf Daten und digitalen Technologien basieren, um sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Es wird nicht perfekt sein, aber ich glaube, wir müssen sicherstellen, dass es so schnell und friedlich wie möglich passiert. (Karin Krichmayr, 2.9.2020)