Nummer eins im Ranking der im deutschen Sprachraum meistgespielten Stücke ist alljährlich meist Goethes Gelehrtendrama "Faust".

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Goethes Faust, Tschechows Kirschgarten, Schnitzlers Reigen. Auf den Spielplänen tummeln sich verlässlich die Stücke des klassischen Theaterkanons. Der Kanon kann’s eben! Er hat Werke herausgefiltert, die es aus diversen Gründen verdient haben, im kulturellen Gedächtnis Platz zu finden. Wir wollen ja auch nicht aufhören, die Rolling Stones zu hören, Citizen Kane zu schauen oder Gemälde von Caravaggio zu betrachten. Beim Theater aber kommt eines hinzu: Theater ist nicht konservierbar, das Kunstwerk nicht abgeschlossen wie ein Film oder ein Gemälde, sondern es wird erst durch die jeweilige Inszenierung immer wieder neu "vollendet". In dieser von Spielzeit zu Spielzeit neu gestarteten Auseinandersetzung mit Dramentexten entpuppt sich deren Tauglichkeit in der Gegenwart. Was haben uns die Stücke heute noch zu sagen?

Kanonrevision

Und da lässt sich in den letzten Jahren ein Wandel erkennen. Denn der Kanon umreißt kein neutrales Gelände, er ist ein umkämpfter Bedeutungsboden, der heute von einer sich rapide verändernden Gesellschaft genau unter die Lupe genommen wird. Er ist nicht unschuldig gewachsen, sondern durch viele Instanzen gesteuert und gepflegt, wobei hier "dead white European males", also "tote, weiße, europäische Männer" bekanntlich die Hauptrolle spielen.

Debatten um Kanonrevisionen gibt es immer wieder. In den letzten Jahren trat das Unbehagen aber zunehmend deutlich zutage. Zunächst einmal schaffen es viele Stücke des Theaterkanons heute nurmehr in einer radikal "übersetzten" Form auf die Bühne. Sie werden vor allem sprachlich und geschlechterpolitisch aktualisiert oder – keineswegs selten – gleich zur Gänze neu überschrieben. Ewald Palmetshofer oder Simon Stone sind die erfolgreichsten Autoren dieses Feldes. Aber auch Elfriede Jelinek zählt mit ihren sogenannten Sekundärdramen (FaustIn and out) dazu, oder Ferdinand Schmalz mit jedermann (stirbt).

Gerade die vergangene Spielzeit brachte eine Vielzahl an Klassikerneudeutungen. Wenn da König Lear steht, heißt heute der Autor nicht mehr zwangsläufig Shakespeare (der es als weltweit meistgespielter Theaterautor aber leicht verkraftet), sondern eben Thomas Melle. An den Münchner Kammerspielen wurden Schillers Räuber zu Räuberinnen, Autorin: Leonie Böhm. Und auch die Eröffnungspremieren am Burgtheater nächster Woche offenbaren es: Der Autor der Antigone heißt Thomas Köck, Stolz und Vorurteil stammtvon Isobel McArthur.

Wer wird repräsentiert?

Auch wenn dabei kein Wort des Ausgangsstücks überlebt, so gehören Neubearbeitungen zu den Spielarten der Kanonpflege; sie bestätigen den Kanon. Aber es tut sich noch mehr. Die Forschungsdisziplin der Kanonkritik gibt es bereits seit etwa fünfzig Jahren, doch so viel Bewegung war noch nie in der kritischen Befragung des Kanons. Wen repräsentiert er, wen adressiert er, und wer kommt in ihm nicht vor?

Der Dramenkanon ist mit der Institutionalisierung des bürgerlichen Theaters im 19. Jahrhundert als dem zentralen, tonangebenden Theater gewachsen – und sieht auch dementsprechend aus. Er wurde von Bildungsbürgern für Bildungsbürger gemacht. Dieser homogene Zustand genügt heute nicht mehr. Manche Stücke, so die These, sind kaum mehr anschlussfähig, und viele von ihnen addieren die immer ähnlichen, einem bürgerlichen, mitteleuropäischen Selbstverständnis entsprechenden Anliegen und verdrängen somit umgekehrt andere Perspektiven, nämlich jene anderer kultureller, geschlechtlicher oder sozialer Identitäten.

Geschlechtergefälle

Theaterhäuser als kanonrelevante Institutionen tragen diesem Dilemma heute Rechnung. Es gilt – nicht zuletzt befeuert von #MeToo –, die in kanonisierten Texten als Generalperspektive festgesetzte männliche Perspektive aufzuweichen. Sie geht – jeder weiß es – mit stereotypen Rollenverteilungen einher: männlicher Held und assistierende Frau. Um dieses festgefahrene Geschlechtergefälle loszuwerden, von Hamlet bis Faust, von Woyzeck bis Liliom, vom Zerbrochnen Krug bis zum Jedermann, greifen Regisseurinnen und Regisseure oft zu geschlechtskonträren Besetzungen, zuletzt war etwa Sandra Hüller als Hamlet in Bochum zu sehen. Das ist eine Möglichkeit, aber letztlich nur verarztender Natur.

Der Kanon ist eben nicht einfach nach Qualitätskriterien gewachsen, sondern er trägt das Gepräge historischer Zeit in sich, das uns Perspektiven und Themen vorenthält. Das Bewusstsein dafür wächst, auch in anderen Sparten werden "vergessene" Künstlerinnen und Künstler gerade intensiv neu entdeckt.

Spielplanänderung

Marcel Reich-Ranickis berühmten acht Kanonbände, in denen auch das Theater mit 43 Stücke vertreten ist, kann man heute – nach Klimakrise und #MeToo – nur mehr als Relikt einer Vorzeit betrachten. Auch der Tatsache wegen, dass von 43 Autoren null weiblich sind.

Der im Frühling im Tropen-Verlag erschienene Band Spielplanänderung, herausgegeben von FAZ-Theaterkritiker Simon Strauss, greift das Thema auf. Das Buch reklamiert 30 Stücke ins Programm, die fehlen. Das ist zwar nur ein kleiner Kratzer am Kanonhimmel, aber wie durch ein Wunder hat er schon Spuren hinterlassen: Anna Gmeyners vergessenes Drama Automatenbüffet (1932) wird noch in dieser Spielzeit am Burgtheater Premiere haben. (Margarete Affenzeller, 2.9.2020)