Das am Mittwoch beginnende Filmfestival von Venedig gilt als Prüfstein für andere, die während der Corona-Zeit stattfinden sollen.

Es ist eine glückliche Fügung, dass gerade das älteste Filmfestival der Welt in diesem Jahr der Absagen stattfindet. Als Großereignis in der Corona-Zeit kommt ihm besondere Symbolkraft zu. Für die Eröffnung der 77. "Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica" am Mittwochabend werden etliche Festivalleiter an den Lido von Venedig anreisen, aus Cannes, Berlin, Locarno bis San Sebastían. Sie alle wollen ein Zeichen für Kino und die Festivalkultur setzen. Dafür, dass man trotz schwieriger Bedingungen für das kollektive Erlebnis der siebenten Kunst einsteht und endlich neue Filme aus der Taufe hebt.

Dass es nun gerade im von der Pandemie so hart getroffen Italien klappen könnte, wurde erst Mitte Mai bekannt. Umso schneller bedurfte es rigider Anti-Covid-19-Sicherheitsvorkehrungen. Wer in das Festivalareal möchte, muss bei den Körperscans am Eingang die richtige Temperatur mitbringen. Die Säle werden wie schon bei anderen Kulturevents nur zur Hälfte belegt, Sitzplätze müssen reserviert werden. Maskenpflicht herrscht nicht nur beim Eintritt ins Kino, sondern auch während der Filmvorführungen. Menschenansammlungen sind abends in Italien ganz verboten.

Man darf gespannt sein, wie diszipliniert sich die internationalen Besucher – man rechnet mit 50 Prozent der sonstigen Akkreditierten – an diese neue Realität anpassen werden; auch ob bei der gerne etwas chaotischen Organisation in Italien alles rund laufen wird.

Kein Gekreisch

Festivaldirektor Alberto Barbera ist heuer eigentlich im letzten Jahr in seiner Funktion, doch er könnte aufgrund der Corona-Situation noch einmal verlängert werden. Von seiner bisherigen Strategie, das Festival durch Oscar-trächtige US-Filme attraktiv zu halten, ist heuer nicht viel übrig geblieben. Dass wenige Stars an den Lido kommen, um hysterische Fans zum Kreischen zu bringen, ist aber gar nicht so schlecht.

Aufgrund der kritischen Lage in den USA, der zögerlichen Haltung der Studios und der Verschiebung der Academy Awards auf Ende April steht Venedig mit seinem Termin nicht mehr so günstig da. Mit Chloé Zhaos Nomadland, in dem Frances McDormand als moderne Vagabundin zu erleben ist, steht zumindest ein Film bereit, dem man in diese Richtung Chancen zuschreibt. Netflix, das am Lido im Unterschied zu Cannes immer gern gesehen wurde, wollte dieses Jahr mit keinen Filmen teilnehmen.

Hoppla!

Die alte Zeitrechnung ist eben obsolet. Durch äußeren Druck scheint das Festival nun zu sich zurück zu finden, indem es sich ohne großen Eifer anderen Festivals gegenüber als Forum für internationales Autorenkino begreift. Und hoppla, plötzlich finden sich im Wettbewerb gleich acht Regisseurinnen, darunter die deutsche Newcomerin Julia von Heinz mit einem Film über politischen Extremismus, die Französin Nicole Garcia oder Susanne Nicchiarelli (Nico, 1988). Das gilt gerade im genderpolitisch zögerlichen Italien als eine kleine Sensation.

Begeisterter Scorsese

Auch wenn die Namen nicht ganz so klingend erscheinen, birgt das Set-up einige spannende Titel. So präsentiert der Ungar Kornél Mundruczó, der letztes Jahr auch bei den Salzburger Festspielen inszenierte, mit Pieces of a Woman seine erste englischsprachige Produktion.

Sie hat Martin Scorsese vorab schon derart begeistert, dass er sie nun als ausführender Produzent begleitet. Auch The Disciple, dem zweiten Spielfilm des Inders Chaitanya Tamhane, der ein Drama rund um einen Musiker seines Landes entwirft, wird von prominenter Seite, von Roma-Regisseur Alfonso Cuarón, protegiert.

Einbußen

Mit insgesamt 63 Filmen, darunter Stars wie Pedro Almodóvar mit einem Kurzfilm oder eine Frederick-Wiseman-Doku über die Bostoner City Hall, muss sich Venedig jedenfalls nicht als Miniatur begreifen. Das nur kurz danach startende Festival in Toronto fällt wesentlich kleiner als sonst aus und kämpft mit Budgeteinbußen.

Die Festivals später im Herbst (wie die Viennale) werden die Mostra wohl als als Testfall begreifen. Wenn alles gut geht, könnte es für Filmkulturevents ein Überbrückungsmodell bis zur Zeit nach Corona geben. Die daran angebundene, mit einem fast schon verlorenen Jahr kämpfende Branche könnte das auch gut brauchen. (Dominik Kamalzadeh, 2.9.2020)