Foto: Henry Holt and Co

Treffer! In regelmäßigen Abständen nehme ich mir einen Kurzgeschichtenband eines Autors vor, den ich noch nicht kenne – stets auf der Suche nach jemandem, der eine Vision hat und eine Stimme, um diese auch zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise habe ich seinerzeit den unvergleichlichen Ted Chiang kennengelernt, oder auch David Marusek. Dazu gesellt sich nun US-Autor Alexander Weinstein, der nach dem vielen Lob für seinen Debüt-Storyband "Children of the New World" von 2016 endlich mal fällig war. Und die Lorbeeren waren offensichtlich berechtigt. "Universal Love" enthält elf Kurzgeschichten, in denen neue Technologien vor allem eine Aufgabe haben: das zutiefst Menschliche hervorzukehren.

Die redigierte Persönlichkeit

Gleich zum Auftakt führt uns die wunderbare Erzählung "The Year of Nostalgia" Weinsteins Herangehensweise vor Augen. Sie verknüpft typische Merkmale der einstigen Golden-Age-SF (Vorstellung einer neuen Technologie plus Schlusspointe) mit denen der gegenwärtigen (Stimmung und Psychologie). Der Inhalt: Die Ich-Erzählerin und ihre Schwester wollen die Einsamkeit ihres verwitweten Vaters abmildern und installieren für ihn die App "Nostalgia". Die holt gewissermaßen Tote zurück – als interaktive Hologramme, deren Quasi-Persönlichkeiten aus allen verfügbaren Daten über die Verstorbenen (re-)konstruiert wurden.

Das ist für SF-Fans soweit noch nichts Neues. Weinstein hebt aber hervor, wie das Rekonstruieren unweigerlich mit Redigieren einhergeht. Schließlich zeigt sich jeder seinen Mitmenschen von unterschiedlichen Seiten. Also klicken sich die Töchter durchs Persönlichkeitsprofil ihrer rekonstruierten Mutter wie durch ein Handymenü und sperren alles, was den Vater vor den Kopf stoßen könnte. Sie erschaffen gleichsam einen Menschen mit Kindersicherung. Papa ist mit dem Ergebnis auch hochzufrieden – während die Töchter verstört feststellen müssen, dass Mama offenbar eine zeitlebens verborgen gehaltene Vorgeschichte voller Abenteuerreisen, Liebhaber und Drogenkonsum hatte. Angesichts der ungeahnten Freigeistigkeit ihrer Mutter beginnt die Erzählerin sogar ihr eigenes unspektakuläres Leben zu überdenken. Und dann ... dann gibt es noch einen dicken fetten Twist. Perfekt!

Doch auch echte Menschen können ihre Persönlichkeit redigieren lassen: In "Beijing" wird eine Technologie beschrieben, die es ermöglicht, unliebsame Erinnerungen durch sogenannte patches zu tilgen – so schnell und unaufwendig, wie eine Botox-Injektion Falten beseitigt. Gabriel, ein Ex-Pat in Peking, hadert lange mit dem Gedanken, sich endlich von seinem lebenslangen Trauma zu befreien: nämlich dass ihn seine Familie verstoßen hat, weil er schwul ist. Und auch in dieser Geschichte wird es eine Pointe geben – eine der bitteren Art.

Trostporno und virtueller Sex

Mit einem Kloß im Hals liest man "Comfort Porn", in dem physische Kontakte weitgehend passé sind und die sozialen Medien nur inadäquaten Ersatz geschaffen haben. Das virtuelle Dating läuft hier so herzlos pornografisch ab, dass Hauptfigur Mandy ihre eigentliche Befriedigung nur in besagtem comfort porn findet: kurzen Videoclips voller lächelnder Menschen, die nichts anderes tun, als zu sagen: "Das hast du gut gemacht, Mandy!" oder "Schön, dass du da bist!" ...

An die Machart von Ted Chiangs "Liking What You See" erinnert "True Love Testimonials". Eine Vielzahl von Stimmen stellt uns Vor- und Nachteile, Nutzen und Missbrauch einer neuen Technologie vor – in diesem Fall Cybersex via Bodysuits. Die Bandbreite der Statements ist beachtlich (und tendenziell humoristisch bis skurril). Da wünscht sich etwa eine Frau eine Default-Einstellung, die den Anzug alleine weitermachen lässt, wenn der Partner immer noch auf seinen Höhepunkt hinarbeitet, während sie längst fertig ist und sich gerne einer anderen Tätigkeit widmen würde. Oder den Mann, der extra in einen Suit schlüpft, um dann in der virtuellen Welt nur herumzusitzen und fernzusehen. Und ein Paar – o Wunder aller Wunder! – hat via Bodysuit sogar die Romantik entdeckt.

Wie aus dem Golden Age of Science Fiction

Sex wäre im sogenannten Goldenen Zeitalter der Science Fiction, Mitte des 20. Jahrhunderts, natürlich tabu gewesen. Wo Weinstein anderes thematisiert, da schreibt er aber Geschichten, die er ohne weiteres per Zeitmaschine an die damaligen Magazinherausgeber schicken könnte. "Childhood" etwa ist die sehr gefühlvoll erzählte Geschichte einer Familie, die darunter leidet, dass die Tochter auf Abwege gerät. Das SF-Element daran: Sowohl das Mädchen als auch sein braver Bruder sind Roboter.

Ein geradezu klassischer SF-Protagonist ist auch Programmierer Luke aus "Infinite Realities", der zusammen mit einem Quantenphysiker ein Tor in parallele Wirklichkeiten öffnet. Flugs wittert er die Chance, sein potschertes Leben und vor allem das Verhältnis mit seiner Freundin zu verbessern ... oder zumindest mit deren Pendant aus der Parallelwelt. Früher oder später wächst ihm dieses "Dreiecksverhältnis" natürlich über den Kopf. Und ein gefürchteter Klischee-Dialog aus Beziehungskisten erhält hier neue Bedeutung: "Tell me the truth: Are you seeing someone else?" – "Just you," I said.

Zugänglich für Nicht-SF-Leser

In den meisten Fällen könnte man Weinsteins Zukunftsvisionen als "die Gegenwart plus ein neues Stück Technologie" charakterisieren. Der Faktor Worldbuilding wird, wenn überhaupt, nur dezent eingesetzt. So kann man sich im luftverschmutzten Peking von "Beijing" nur noch durchs Freie bewegen, indem man sich von einem Sauerstoffspender zum nächsten hangelt. Und in "True Love Testimonials" fällt einmal der ominöse Nebensatz, dass ein Flugticket von der Ost- zur Westküste der USA "ein Jahr Dienst" kosten würde – mehr nicht, die Welt dahinter bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. Das macht Weinsteins Geschichten nicht zuletzt denjenigen zugänglich, die sich durch allzu komplizierte Weltentwürfe von der SF abschrecken lassen.

Nur einmal hat Weinstein seinerseits eine fremde Welt kreiert – und eine ausgesprochen düstere obendrein. In "Mountain Song" hat eine Art Daten-Apokalypse stattgefunden. Alle Menschen sind in einem omnipräsenten Datenstrom vernetzt, der das Internet mit all seinen Begleiterscheinungen ins Gehirn verlagert hat. Und die dafür notwendige Infrastruktur hat alle Ressourcen aufgebraucht: Gebirge wurden abgetragen, Seen ausgetrocknet, Tiere und Pflanzen sind ausgestorben. Nur noch die gigantischen Türme des globalen Netzes ragen aus dem Ödland.

Und sollte jemand der Meinung sein, dass SF ohne Aliens keine richtige Science Fiction ist: Bitte sehr, einmal haben auch Außerirdische ihren Auftritt in diesem Band – und zwar einen recht ungewöhnlichen. In "Sanctuary" manifestieren sich eines Tages die Avatare riesiger Insekten in den virtuellen Spielwelten der Menschen. Sind es Invasoren oder Flüchtlinge? Unweigerlich entbrennt ein Krieg – aber nicht mit den Aliens, sondern zwischen den Menschen, die sich uneinig sind, wie mit den ungebetenen Besuchern umgegangen werden soll. Die kaum getarnte Metapher für die allgegenwärtige Migrationsdebatte hebt ein Grundmerkmal von Weinsteins Geschichten noch einmal besonders deutlich hervor: Sie alle wirken lange nach. Große Empfehlung!