128 Millionen winzige Weltraumschrottteilchen schwirren um die Erde.

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Michael Steindorfer ist eine Art Detektiv für besondere Fälle. Der Physiker vom Grazer Institut für Weltraumforschung (IWF) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entwickelt mit seinem Team Aufspürmethoden für Weltraumschrott wie abgeworfene Raketenstufen und durch Kollisionen entstandene Satellitenfragmente.

Denn inzwischen schwirren statistischen Modellen der Europäischen Weltraumbehörde Esa zufolge mehr als 34.000 größere Objekte (ab zehn Zentimeter Größe), 900.000 kleinere (1–10 cm) sowie sage und schreibe 128 Millionen winzige (1 mm bis 1 cm) mit enormen Geschwindigkeiten von bis zu 25.000 Kilometern pro Stunde um die Erde.

Gefahr für Satelliten

Sie können für Satelliten sowie Raketen- und Raumfährenstarts gefährlich werden. Das sei, als ob sämtliche verlorengegangenen Schiffe in der Geschichte der Seefahrt immer noch an der Wasseroberfläche schwimmen würden, hat Esa-Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner gesagt. Selbst nur wenige Zentimeter große Fragmente können vitale Satellitenkomponenten kaputt- oder die Flugkörper aus der Bahn schießen. Deshalb werden die Positionen von etwa 22.000 Fragmenten ab zehn Zentimetern verfolgt, um Kollisionswarnungen berechnen zu können.

Bisherige Ortungsmethoden für Weltraumabfall sind allerdings entweder ungenau oder nur zeitlich begrenzt einsetzbar. Die häufig eingesetzte Radarerfassung ist jederzeit möglich, kann allerdings um 100 Meter daneben liegen. Die Laser-Entfernungsmessung ("laser ranging") wiederum ist bei Fragmenten zwar auf einen Meter genau, aber nur nachts für jeweils drei Stunden vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang möglich. Nur dann besteht ein ausreichender Kontrast zwischen dem an den Fragmenten reflektieren Sonnenlicht und der Dunkelheit um die Messstationen wie die Laserstation Graz-Lustbühel. Eine Spezialkamera erfasst die Reflexionen, sobald sie in das Sichtfeld der Laserstation fallen, umdiese Objekte sichtbar zu machen.

Kurze Pulse schießen

"Dann schießen wir mit einem starken Laser kurze Pulse auf den Weltraumschrott, der die Lichtteilchen (zurück zur Erde, Anm.) reflektiert. Diese Photonen verteilen sich über ganz Mitteleuropa. Einige fangen wir mit unserem Teleskop auf und leiten sie zu einem Einzelphotonendetektor. So lässt sich aus der Reisezeit der Lichtteilchen zum Weltraumschrott und zurück zum Detektor berechnen, wie weit entfernt es sich befindet", erklärt Steindorfer das Grundprinzip.

Damit lassen sich die in Radarkatalogen geführten Bahnen der größeren Trümmer korrigieren. Steindorfers Team hat diese Methode in Kooperation mit der ESA nun so weiterentwickelt, dass größere Weltraumschrottstücke auch tagsüber sichtbar und je nach Jahreszeit und Bewölkung die Entfernung prinzipiell bis zu 22 Stunden messbar gemacht werden können. Ihre Ergebnisse haben die Forscher im Fachjournal Nature Communications vorgestellt .

Sie kombinierten ihr Teleskop mit einer Spezialkamera und einem Filter, "der das blaue Tageslicht herausfiltert und den Kontrast gegenüber dem Himmelshintergrund erhöht", sagt Steindorfer. Darüber hinaus identifiziert eine ebenfalls neu entwickelte Software auch tagsüber automatisch Objekte im Gesichtsfeld der Kamera und korrigiert ungenaue Bahnvorhersagen in Echtzeit. "Korrigiert man die Ungenauigkeit der Radarvorhersagen nicht, muss man mit dem Laser in der kurzen Überflugzeit von wenigen Minuten einen zu großen Bereich absuchen", sagt Steindorfer. Sein Team validierte das System mit vier Raketenoberstufen.

Als Nächstes wollen die Forscher die Methode weiter verfeinern, um etwa störendes Hintergrundrauschen zu reduzieren. Steindorfer hofft, dass möglichst viele Laserstationen die Methode adaptieren, um auf diese Weise die Vorhersagegenauigkeit der Umlaufbahnen weiter zu erhöhen. Bisher ist es nämlich so, dass sich Satellitenbetreiber bei einer Kollisionswarnung der Esa aufgrund der Messungenauigkeit von bis zu 100 Metern für ein Ausweichmanöver entscheiden, die der Esa zufolge in 99 Prozent der Fälle überflüssig ist. Dafür haben die künstlichen Erdtrabanten extra einen Treibstoffvorrat an Bord.

Großer Bedarf

Der Bedarf ist groß. "Die Weltraummüllpopulation wächst, und in einigen Regionen ist man sehr nah an der kritischen Dichte, die ihre Nutzung zu unsicher und Ausweichmanöver zu teuer machen würde", sagt Tim Flohrer, der die Weltraummüllabteilung der Esa leitet und an der Publikation mitgearbeitet hat. Österreich ist neben 21 anderen Staaten Esa-Mitglied und zahlt 2020 über das Klimaschutzministerium 51,2 Millionen Euro.

In niedrigeren Umlaufbahnen von wenigen hundert Kilometern verglühen viele Objekte bald in der Restatmosphäre. Doch ab 700 Kilometern aufwärts, wo sich viele Satelliten befinden, "kreist der Müll für Hunderte von Jahren", so Flohrer. "Alles, was bei sicherem Satellitenbetrieb Ausweichmanöver vermeiden hilft, spart Ressourcen."

Kiwi Space Radar

Tim Flohrers Abteilung bei der Esa arbeitet deshalb an Technologien zur Weltraummüllortung. Dazu gehören bessere Sensoren für die Radarortung, Möglichkeiten zur Vernetzung von Teleskope für eine bessere Ortungsgenauigkeit und Modellierungen, die Vorhersagen über die Fragmentierung von wiedereintretenden Trümmerteilen erlauben. Vielversprechend klingt auch die 2019 in Neuseeland installierte Radartechnologie des US-Unternehmens Leo-Labs. Der Kiwi Space Radar soll bis zu zwei Zentimeter kleine Weltraumtrümmer verfolgen.

Die Grazer Methode könnte derweil künftig nicht nur genauere Bahnvorhersagen ermöglichen, sondern einen ganzen Strauß weiterer Müllbewältigungstechnologien unterstützen. Sie soll zum Beispiel abschätzen helfen, ob größere Fragmente in die Erdatmosphäre eintreten und – wenn sie dabei nicht verglühen – ganz oder in Stücken eine Gefahr für Wohngebiete bedeuten würden. Steindorfer und Kollegen zufolge wäre ihre Methode nicht zuletzt auch für spätere Müllsammelmissionen wichtig, um die Rotationsgeschwindigkeit und -achse der Objekte zu bestimmen. Die erste Esa-Mission namens Clear Space-1 ist für 2025 geplant. Die Minirakete soll mit einem Roboterarm eine 100 Kilogramm schwere Raketenstartstufe einfangen und gemeinsam mit ihr in der Atmosphäre verglühen. (Veronika Szentpétery-Kessler, 3. 9. 2020)