Der Rechtshistoriker und Kelsen-Biograf Thomas Olechowski in der Eingangstüre des Hans Kelsen-Instituts in Wien. Im Hintergrund ein Porträt des Namensgebers.

Heribert Corn

Am 1. Oktober vor hundert Jahren trat das Österreichische Bundes-Verfassungsgesetz in Kraft. Eine entscheidende Rolle bei ihrer Formulierung kam Hans Kelsen zu. Der Rechtshistoriker Thomas Olechowski (Universität Wien) hat passend zu diesem Jubiläum die erste umfassende Biografie von Österreichs bedeutendstem Rechtswissenschafter des 20. Jahrhunderts vorgelegt (hier geht es zur Kurzrezension).


STANDARD: Hans Kelsen wird immer wieder als der "Vater" der österreichischen Verfassung bezeichnet. Sehen Sie das auch so?

Olechowski: Ich bevorzuge die Bezeichnung "Architekt", denn das trifft es meiner Ansicht nach besser. Beim Hausbau gibt es einen Bauherrn, der bestimmte Wünsche und Vorgaben äußert, wie das Haus aussehen oder wie viele Zimmer es haben soll. Und der Architekt hat dann die Aufgabe, Pläne auszuarbeiten, die diese Wünsche berücksichtigen, und dabei darauf zu achten, dass dieses Haus möglichst schön und funktional ist und nicht einstürzt. Ganz ähnlich war es mit der Verfassung: Kelsen erhielt im Mai 1919 vom damaligen Staatskanzler Karl Renner den Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten, und hatte dabei bestimmte Vorgaben zu berücksichtigen.

STANDARD: Welche waren das?

Olechowski: Es war klar, dass Österreich nach dem Ersten Weltkrieg eine Demokratie und ein Bundesstaat sein wird. Das stand außer Streit und war nicht Kelsens Entscheidung. Bestimmte Detailfragen – etwa die Rolle des Bundespräsidenten oder des Bundesrats als Ländervertretung – waren politisch umstrittener. Entsprechend hat Kelsen nicht nur einen Entwurf der Verfassung vorgelegt, sondern mindestens sechs, die in ihrer Grundstruktur aber alle gleich waren und sich nur in bestimmten Details voneinander unterschieden. Für die meisten umstrittenen Fragen fand man auf diese Weise auch einen Kompromiss.

STANDARD: Nicht für alle?

Olechowski: In der damaligen politischen Situation, die vom Gegensatz zwischen den Christlich-Sozialen und den Sozialdemokraten geprägt war, konnte man sich in Grundsatzfragen etwa des Schulwesens, der Finanzverfassung oder der Grundrechte (wie etwa dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Fragen der Ehe oder im Schulwesen) nicht einigen. Das wurde in der Bundes-Verfassung 1920 ausgeklammert, und man behielt einfach den Rechtszustand der Monarchie bei. Die Finanzverfassung konnte man dann 1922 neu regeln, das Schulwesen 1962, und in punkto Grundrechte beziehen wir uns heute noch auf 1867.

STANDARD: Um die Metapher vom Haus und vom Architekten aufzugreifen: Anlässlich der Ibiza-Staatskrise würdigte der Bundespräsident Van der Bellen unsere Verfassung als "schön und elegant". Können Sie damit etwas anfangen?

Olechowski: Es kommt natürlich immer darauf an, was man als schön bezeichnet. Vom Architekten Otto Wagner gibt es den Ausspruch "Unnützes kann nicht schön sein". Auf Wagners Bauten trifft das zwar nur bedingt zu, für die Verfassung kann man das schon so gelten lassen. Vor allem aber ist sie klar und gibt in kritischen Situationen eindeutige Handlungsanweisungen, worauf der Bundespräsident nach der Abwahl der Regierung 2019 anspielte. An diesem klaren, nüchternen Stil der Verfassung hatte Kelsen großen Anteil.

STANDARD: Der Verfassung fehlt auch eine Präambel und anderes schmückendes Beiwerk. Geht auch das auf Kelsen zurück?

Olechowski: Nur zum Teil. Das fehlende Pathos hat eine gewisse Tradition in Österreich, weil neue Verfassungen oft nach Kriegsniederlagen entstanden, etwa auch schon 1867. Und auch im Rechtspositivismus Kelsens, der die Einheit des Staatswesens in seiner Rechtsordnung sieht, steckt das Erbe der Habsburgermonarchie: In diesem Vielvölkerverbund mit seinen vielen Religionen, Ethnien und Kulturen war es schlichtweg unmöglich, den Staat national, völkisch oder religiös zu legitimieren.

STANDARD: Die Verfassung wurde dann 1929 novelliert, was auch dazu beitrug, dass Kelsen Wien verließ.

Olechowski: Richtig. Am Beginn der Diskussionen um diese Novelle gab es radikale Forderungen der Heimwehren, die den Bundespräsidenten zum starken Mann machen wollten, ähnlich wie Mussolini in Italien. Zudem sollte ein Ständeparlament eingeführt werden, und Wien sollte seinen autonomen Status als Bundesland verlieren. Das konnte zum Teil entschärft werden. Beschlossen wurde aber auch, dass der Verfassungsgerichtshof stärker unter Regierungskontrolle gebracht wird, und dazu wurden alle 14 Verfassungsrichter abgesetzt und nur zwei davon wiederbestellt. Einer der abgesetzten Verfassungsrichter war Kelsen, der daraufhin 1930 eine Professur in Köln annahm. Es ist aber offensichtlich, dass er bereits seit Jahren vom politischen Klima an der Universität Wien und den Attacken gegen ihn etwas zermürbt war.

STANDARD: 1933 erfolgte dann durch Dollfuß die Ausschaltung des Parlaments. Dafür hatte die Verfassung keine konkrete Handlungsanweisung vorgesehen. Ist da Kelsen ein Fehler unterlaufen?

Olechowski: Nicht wirklich. Es stimmt, dass die Ausschaltung des Parlaments aufgrund einer Gesetzeslücke möglich wurde, die aber nicht auf Verfassungsebene angesiedelt war, sondern auf der Geschäftsordnungsebene des Nationalrats. Damit konnte man nicht rechnen. Wenn man es darauf anlegt, finden sich immer Lücken. Auch die beste Verfassung kann nicht alles vorhersehen. So ist etwa auch unklar, was passieren wird, wenn Donald Trump die US-Wahl verliert, aber nicht zurücktreten will.

STANDARD: Wie hat Kelsen die Ereignisse in Österreich 1933 gesehen?

Olechowski: Er war da schon im Ausland und hat das nicht kommentiert. Kelsen hat auch später nur selten zu Österreich und den Verfassungsumbrüchen 1933/34 und 1938 Stellung genommen. Eine Ausnahme ist ein Bericht, den er 1944 für das US-Außenministerium verfasst hat, in dem es um die Zukunft Österreichs nach der NS-Herrschaft geht. Darin schreibt Kelsen, dass das Dollfuß-Schuschnigg-Regime ein faschistisches Regime gewesen sei und es wohl nicht im Interesse der Amerikaner sein könne, nach der Befreiung von Hitler wieder einen faschistischen Staat in Österreich zu errichten.

STANDARD: Was ist an Kelsens Schriften und Denken heute noch aktuell?

Olechowski: Kelsen ist heute fraglos ein Klassiker der Demokratietheorie. Das ist auch der für mich spannendste Teil seines umfangreichen Werks, das neben seinen Arbeiten zum Verfassungsrecht aber auch noch Texte etwa zum Völkerrecht umfasst. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass viele seiner wichtigsten Arbeiten über 100 Jahre alt sind und vor der Erfahrung der NS-Zeit verfasst wurden. Aber man kann natürlich bis heute viel aus seinem Werk herausholen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Olechowski: Ich würde an erster Stelle Kelsens nach wie vor gültiges Bemühen nennen, Aussagen über das Recht von dem zu unterscheiden, was man politisch gerne hätte. Das ist ja auch das zentrale Element der reinen Rechtslehre. Für Kelsen war es wichtig, zwischen drei Ebenen zu unterscheiden: Was ist die gelebte Praxis des Rechts? Was sagt die Rechtsordnung? Und wie sollte die Rechtsordnung sein? Man darf die Rechtsordnung also nicht mit dem verwechseln, was ist, und auch nicht mit dem, wie das Recht sein sollte. Das wird immer ein aktueller Punkt sein. (Klaus Taschwer, 7.9.2020)