Tunesiens neuer Premier Mechichi im Parlament.

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Tunesien hat eine neue Regierung. In der Nacht auf Mittwoch stimmte das hochgradig zersplitterte Parlament in Tunis mit überraschend großer Mehrheit für das Kabinett des neuen Premierministers Hichem Mechichi. Nach einer regelrechten Marathonsitzung, die sich bis tief in die Nacht zog, sprachen 134 der insgesamt 217 Abgeordneten dem 46-jährigen Mechichi und seiner ausschließlich mit parteilosen Technokraten besetzten Regierung ihr Vertrauen aus. Die Abstimmung in Tunesiens Volksvertretung war mit Spannung erwartet worden, blieb doch bis kurz vor dem Votum unklar, ob das Kabinett die nötige Mehrheit zusammenkratzen würde oder eben nicht.

Wäre die Regierung bei der Vertrauensabstimmung durchgerasselt, hätte Staatspräsident Kaïs Saïed Neuwahlen ansetzen können – ein Szenario, das zahlreiche im Parlament vertretene Parteien um jeden Preis vermeiden wollten. Denn jüngste Wahlumfragen zeigen, dass vor allem die größeren Parteien bei einem vorgezogenen Urnengang teils empfindliche Verluste hinnehmen müssten.

Bemerkenswert ist das Abstimmungsergebnis auch, da praktisch alle politischen Kräfte im Parlament lautstark und vehement gegen das Einsetzen einer Technokratenregierung opponiert hatten. Insbesondere die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei von Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, die mit 52 Sitzen die größte Fraktion in der Volksversammlung stellt, war auf Konfrontation mit Saïed und Mechichi gegangen, schließlich fürchtet die Partei durch das Einsetzen einer Technokratenregierung ihren Einfluss auf die exekutive Entscheidungsfindung zu verlieren.

Die Angst vor Neuwahlen zwang die zuletzt immer kompromissloser agierende Ennahda am Ende aber doch zum Einlenken. Der bereits seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Präsident Saïed, Ennahda-Chef Ghannouchi und dem Parlament dürfte mit dem Einsetzen Mechichis aber keinesfalls beendet sein. Ghannouchi ließ es sich daher auch nicht nehmen, nach der Abstimmung abermals eine implizite Breitseite gegen Saïed abzufeuern. Das Parlament habe gezeigt, dass es das Herz der Macht in diesem Land sei, so Ghannouchi nach der Abstimmung.

Kritik am Präsidenten

Zwischen den Zeilen attackierte er damit Saïeds Versuch, den Einfluss des Staatspräsidenten auf die Regierung zuungunsten des Parlaments auszubauen. Auch zahlreiche andere Parteien hatten das Einsetzen einer sogenannten Präsidialregierung scharf kritisiert, wird die Exekutive doch fortan von einem Vertrauten Saïeds geführt.

Hintergrund der nötig gewordenen Wahl eines neuen Kabinetts ist das Ergebnis der Parlamentswahl im Herbst 2019, die eine stark fragmentierte Legislative hervorgebracht hatte. Mehr als vier Monate hatte es gedauert, bis der Sozialdemokrat Elyes Fakhfakh Ende Februar eine auf wackeligen Beinen stehende Mehrheit zusammengezimmert hatte.

Doch schon Mitte Juli stürzte seine Regierung über eine Korruptionsaffäre und Ennahdas Machthunger. Angesichts der immer heftiger werdenden Schlammschlachten im Parlament und den nicht enden wollenden politischen Instabilitäten im Land entschied sich Saïed, politisches Neuland zu betreten und mithilfe einer Technokratenregierung zu versuchen, Ruhe in Tunesiens politisches Chaos zu bringen. Ob das jedoch funktionieren wird, gilt als völlig unklar. Denn Mechichi sitzt bei weitem nicht so fest im Sattel, wie es das Abstimmungsergebnis suggeriert. (Sofian Philip Naceur, 3.9.2020)