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STANDARD: In Europa ist viel von Solidarität zur Überwindung der Corona- und Wirtschaftskrise die Rede. Ist das auch realistisch?

Krastev: Es gibt diesen Solidaritätsanspruch im Grunde bei jeder Krise. So war das in der Finanzkrise nach 2009 oder bei der Migrationskrise 2015. Diesmal gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Corona-Krise betrifft alle Menschen.

STANDARD: Inwiefern?

Krastev: Weil die gesamte Gesellschaft betroffen ist. Natürlich gibt es Menschen, die verletzbarer sind als andere, die Alten mehr als die Jungen, die Ärmeren oder Minderheiten mehr als andere. Aber dennoch gilt: Das Coronavirus bedroht jeden, niemand kann sich sicher fühlen. Niemand kann der Krise entfliehen, man kann sich nicht absetzen.

Politologe Krastev war 2019 Gast bei der Reihe "Debating Europe" im Wiener Burgtheater.
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STANDARD: Welche politischen Folgen hat das?

Krastev: Diese Krise hat auch zur Folge, dass wir physisch viel mehr betroffen und gleichzeitig aufeinander angewiesen sind als je zuvor. Es gibt noch einen zweiten wichtigen Unterschied: den Überwachungsaspekt. Als es die Terroranschläge gab und die Antiterrorgesetze, stellten viele den Überwachungsstaat infrage. Das ist diesmal anders, die Bürger sind viel mehr bereit, dem Staat zu erlauben, sie zu überwachen.

STANDARD: Es gibt aber doch heftige Proteste gegen Einschränkungen der Freiheit.

Krastev: Aber die Konsequenzen daraus sind verschieden. Wir sind heute viel mehr bereit, auf individuelle Freiheiten und Rechte zu verzichten, weil das für die Gemeinschaft als Ganzes gut ist.

STANDARD: Die Regierungen haben in den ersten Tagen der Pandemie sofort auf nationale Lösungen gesetzt.

Krastev: Es gibt auch da einen großen Unterschied zu früher. Es handelt sich dabei nicht um einen ethnischen Nationalismus. Bei der Flüchtlingskrise 2015 bezog man sich auf die Herkunft, auf ethnische Differenzen, besonders in den Ländern Ost- und Ostmitteleuropas. Da wurde unterschieden zwischen "Wir und die anderen". In der Corona-Krise ist entscheidend, wo jemand wohnt, nicht seine ethnische Herkunft. Länder haben sich untereinander abgegrenzt, aber jeder, der dort lebte, wurde geschützt. Die Maßnahmen galten für alle, Staatsbürger oder nicht.

STANDARD: Was bedeutet das?

Krastev: Es ist nicht der alte Nationalismus, den wir kennen, es ist eher eine Art inklusiver Nationalismus, der auf der Realität fußt, nicht auf kulturellen Wurzeln oder der ethnischen Herkunft. Die portugiesische Regierung hat dezidiert erklärt, dass jeder, der sich im Land befindet, so behandelt wird, als sei er ein Staatsbürger. Das macht diese Krise so interessant.

STANDARD: Aber es ist doch so gewesen, dass das gemeinsame Europa zuerst praktisch keine Rolle gespielt hat beim Krisenmanagement, nicht?

Krastev: Das ist nicht überraschend. Das ist immer so bei dieser Art von Krise, bei einer Pandemie. Zuerst werden die Grenzen geschlossen, das ist ganz normal. Die Regierung will die Menschen überzeugen, dass sie die Kontrolle über die Lage hat beziehungsweise wiedergewinnt. Wir sollten alle mehr Geschichte studieren, dann würden wir verstehen, dass das Schließen der Grenzen als Reaktion auf Pandemien oft bedeutender war als etwa bei Kriegen oder Revolutionen. Hunderte Jahre lang war der Hauptzweck der Grenzen zwischen dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich, das Einschleppen von Krankheiten und Epidemien zu verhindern. Es gab an den Grenzstationen daher auch Quarantänestationen, in denen die Leute für zehn Tage oder zwei Wochen bleiben mussten, wenn sie die Grenze überschritten.

STANDARD: Ich dachte bisher, das Wort Quarantäne kommt aus Venedig?

Krastev: Das stimmt auch. Ankommende Schiffe mussten vierzig Tage im Hafen verharren, bevor der Mannschaft erlaubt wurde, an Land zu gehen. So wollte man Plagen abwenden. In früheren Zeiten gab es alle paar Jahrzehnte eine Massenkrankheit. Das versuchte man abzuwenden.

STANDARD: Wird die Corona-Pandemie also ein Turbo für mehr Integration in Europa?

Krastev: Es gibt einige Paradoxien, die mit Corona einhergehen, mehrere Trends. Zuerst gab es diesen nationalen Reflex, die Maßnahmen, die Einschränkungen. Aber dann hat man bald erkannt, dass ein totales Abschotten nicht funktioniert. Man kann nicht sein gesamtes Leben im eigenen Appartement verbringen. Die Wirtschaft kann so nicht funktionieren. In Österreich hat man schon nach wenigen Wochen gesehen, wie wichtig die Grenzgänger sind, die zum Beispiel im Pflegebereich arbeiten. Ungarn, Slowaken müssen jeden Tag über die Grenze fahren. Das gilt ähnlich in der ganzen Europäischen Union. Ein Wiederaufkommen des Nationalismus funktioniert in Wahrheit nicht, man stößt rasch an die Limits, die das für die Wirtschaft bedeutet.

STANDARD: Aber bei vielen Menschen kommt der neue Nationalismus gut an, auch die Skepsis gegenüber der EU.

Krastev: Auch da gibt es Paradoxien, die durch die Corona-Krise besser sichtbar wurden. Als beim Lockdown viele Menschen in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt waren, haben sie eine doppelte Erfahrung gemacht. Sie fühlten sich rasch isoliert, aber gleichzeitig erlebten sie sich kosmopolitisch. Denn wenn sie den Fernseher eingeschaltet haben, konnten sie sehen, dass sie in dieser Krise nicht allein sind, dass andere Länder in derselben Situation sind, wie sehr sie in einer gemeinsamen Welt leben. Das hat vielen, auch einfachen Menschen, die Augen geöffnet dafür, wie sehr wir in der modernen Welt verbunden sind, auch mit China oder Indien. Auf einmal haben alle verstanden, dass bestimmte Medikamente nicht mehr im eigenen Land oder in Europa erzeugt werden. Deshalb glaube ich, dass der Nationalismus, dieses Abschließen, diesmal nicht funktioniert, ganz anders als bei der Migrationskrise 2015.

STANDARD: Aber die EU-Kommission spielt eine schwache Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie, die Staaten entscheiden fast alles, anders als bei den Wirtschaftshilfen.

Krastev: Ein Teil des Problems ist, dass die Kommission auf diesem Gebiet wenig Kompetenzen hat. Ein entscheidendes Versagen ist, wer über das Schließen der Grenzen entscheidet. Das taten die Nationalstaaten, nicht die EU-Kommission. Aber: Plötzlich sehen die Europäer, wie allein sie in der Welt sind, dass ihnen bei der Bekämpfung der Pandemie niemand hilft. Die USA und China bekämpfen einander. Dadurch wird die Idee, dass das gemeinsame Europa sich konsolidieren muss, an Bedeutung gewinnen.

STANDARD: Inwiefern stärkt das Europa, und welche Rolle spielt dabei der Corona-Wiederaufbauplan mit starkem Gewicht für Klimaschutz und Digitalisierung?

Krastev: Selbst die Souveränisten müssen erkennen, dass nur eine gewisse Stärkung der Europäischen Union, der multilateralen Zusammenarbeit, auch die Souveränität ihrer Nationalstaaten garantiert. Die Welt ändert sich rasant. Die Nationalstaaten, insbesondere die kleinen Länder, haben sehr gut verstanden, dass sie außerhalb der Union keine Chance haben. Wobei es Deutschland war, das die größte Wendung vollzogen hat. Die ist für Europa wirklich bedeutend.

STANDARD: Wie könnte Corona die Gesellschaften in Europa politisch verändern, auch die Parteienlandschaft?

Krastev: Das ist wie in einer Kriegssituation, es geht um das Überleben der Gesellschaft als Ganzes. Daher spielen die ideologischen Differenzen eine geringere Rolle. Es gibt mehr Unterschiede nach Generationen, je nach Alter sind die Menschen anders betroffen. Man hat eine andere Haltung zu restriktiven Maßnahmen, wenn man 35 Jahre alt ist, als wenn man 55 ist, oder welche Art von Unternehmen man hat, wie das betroffen ist. Das hat sich beim Lockdown gezeigt. Ein anderes Beispiel: Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland marschierten die extreme Rechte und die extreme Linke gemeinsam.

STANDARD: Was haben sie gemein?

Krastav: Sie misstrauen beide sehr grundsätzlich dem System und dem, was die Regierung tut. Vor zwei Jahren haben sie einander auf der Straße bekämpft, jetzt marschieren sie gemeinsam und sagen, dass die Maßnahmen der Regierung nicht dem Gemeinwohl dienen, sondern nur dem Ausbau der Macht. Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Populisten in dieser Krise nicht die Gewinner sind. Sie schüren normalerweise eine allgemeine Angst und Unzufriedenheit. Aber bei Corona geht es um eine ganz bestimmte Furcht vor einem Virus, gegen das man ganz konkrete Lösungen finden muss. Angstmache hilft da nicht weiter.

STANDARD: Nach der Corona-Pandemie wollen die EU-Staaten der entstandenen Wirtschaftskrise durch Priorität und ein Zusatzbudget von hunderten Milliarden Euro für Klimaschutz und Digitalisierung begegnen. Welche Chancen bietet das für Österreich?

Krastev: Österreich ist für mich ein politisches Laboratorium für Europa. Es ist im Moment das spannendste Experiment. Die konservativ-grüne Koalition ist die große Koalition der Zukunft, repräsentativ für die Generationen in Europa, speziell im Westen. Sehr viele junge Wähler wenden sich den Grünen zu, die grünen Themen sind die bestimmenden in Europa. Und es gibt in Europa eine verbreitete Sorge wegen der Überalterung der Gesellschaft, die von den Konservativen adressiert wird. In Österreich gibt es nun eine konservative Partei, die ÖVP, die von einem sehr jungen Parteichef geführt wird. Das ist bedeutend.

STANDARD: Warum?

Krastev: Er (Sebastian Kurz, Anm.) betont sehr stark die Digitalisierung, die Bedeutung der Steuerpolitik und verfolgt mit dem Regierungsprogramm eine grüne Agenda. Er kann jetzt sagen: Alle wichtigen Prioritäten der Europäischen Union sind auch meine Prioritäten. Das nimmt man außerhalb des Landes vermutlich stärker wahr als in Österreich selbst. Ich glaube, dass dieses Experiment am Ende politisch so bedeutend sein könnte wie die Experimente bei den Linken in den 1920er und 1930er-Jahren, als sie versuchten, eine progressive Gesellschaft zu schaffen.

STANDARD: Wie ist das zu verstehen?

Krastev: Es ist eine ganz neue Generation von Politikern, die jetzt dran ist. Das ist auch ein Hinweis auf Deutschland, auch dort fragt man sich gerade, wie es weitergeht, welche Art von politischem Konsens möglich ist. In Österreich geht es auch nicht nur um Kanzler Kurz, man sollte die Rolle des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen nicht unterschätzen, der so etwas wie eine klassische grüne Geschichte hat. Auch seine Wahl war am Ende Ausdruck eines neuen Konsenses in der Gesellschaft. Das österreichische Experiment steht also auf zwei Beinen. Präsident und Kanzler sind sehr populär, obwohl sie aus völlig verschiedenen Lagern kommen. (Thomas Mayer, 4.9.2020)