Eine russisch-türkische Patrouille im Nordwesten von Syrien.
Foto: Azalden Idlib

Mediale Aufmerksamkeit erregte die bisher dritte Tagung des Syrien-Verfassungskomitees in Genf vor allem, weil sie wegen Corona-Infektionen unter Delegierten drei Tage unterbrochen werden musste: Teilnehmer beschreiben das Zusammentreffen von syrischen Regimevertretern und Opposition jedoch als das bisher konstruktivste – freilich von einem totalen Stillstand gerechnet.

Diesmal hatte Russland etwas mehr Druck auf das Assad-Regime in Damaskus ausgeübt, das einige für die Opposition unerfüllbare Bedingungen für die Gespräche über eine neue syrische Verfassung fallen ließ. Der Uno-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, stellte jedenfalls eine baldige Fortsetzung in Aussicht.

Russland hat Interesse daran, dass Syrien nicht zum Loch ohne Boden wird, sondern irgendwann wieder funktioniert. Als Prekariate eingefrorene Konfliktsituationen – im Nordosten des Landes oder in Idlib im Nordwesten – drohen derzeit wieder zu explodieren, die Zwischenfälle zwischen den vielen Akteuren steigen. Zuletzt war es Ende August im Nordosten bei Deir ez-Zor – die USA kontrollieren dort die Ölfelder – sogar zu einem Zusammenstoß zwischen einer russischen und einer amerikanischen Patrouille gekommen. Die Russen rammten dabei ein US-Fahrzeug; Washington warf Moskau vor, die beidseitigen Regeln zur Konfliktvermeidung verletzt zu haben.

Gemengelage der Akteure

Man muss sich die Gemengelage im Nordosten als ein explosives Gemisch von Akteuren vorstellen: die von Kurden dominierte und von den USA unterstützte Miliz Syrische Demokratische Kräfte (SDF), die sich aber auch mit Damaskus arrangiert hat, Russen, Türken, Amerikaner, Iraner und ihre Milizen, protürkische Syrer, Regime-Syrer und arabische Stämme, die – von Damaskus ermuntert – gegen die kurdische Dominanz aufmucken.

US-Truppen sind im August auch mit dem Regime zusammengestoßen. Eine US-Basis wurde mit Raketen angegriffen, als Antwort auf einen Clash zwischen einer syrischen und einer US-Patrouille, bei dem ein Syrer getötet wurde.

Und da ist noch der türkische Präsident Tayyip Erdoğan, der mit einer Sicherheitszone auf syrischer Seite die Kurden der PKK-freundlichen YPG aus dem Grenzgebiet vertreiben will und gegen die "kranke Mentalität" der USA, die die SDF unterstützt, wettert. Mit einem Wort: Niemand hat in dem Gebiet die volle Kontrolle, und ein geringer Anlass könnte ausreichen, dass alles in die Luft fliegt. Dass der Zwischenfall zwischen USA und Russland relativ zurückhaltend behandelt wurde, zeigt, dass sich die beiden Seiten der Gefahr bewusst sind.

Arrangements in Idlib

Auch im Nordwesten und rund um Idlib, wo die Situation ebenfalls durch ein russisch-türkisches Arrangement eingefroren ist, scheint die Temperatur wieder zu steigen. Anfang August gab es zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder Luftangriffe auf Zivilisten. Ende August wurde in der Nähe der Autobahn M4 eine gemeinsame türkisch-russische Patrouille von Rebellen angegriffen, der zweite Vorfall dieser Art in nur einer Woche. Dabei wurden russische Soldaten verletzt.

Die Provinz Idlib ist das letzte Gebiet in Syrien, wo sich mit türkischer Hilfe Rebellen – ein Teil von ihnen radikal-islamistisch – halten. Geländegewinne des syrischen Regimes im Jahr 2019 flossen in die Waffenruhearrangements ein, auf die sich Ankara und Moskau Anfang März einigten. Die dadurch zementierte türkische Präsenz ist aber nicht nur Damaskus, sondern der arabischen Welt allgemein ein Dorn im Auge. Der Zusammenbruch der syrischen Währung hat dazu geführt, dass im Nordwesten vermehrt die türkische Lira als Zahlungsmittel im Umlauf ist.

Israelische Luftangriffe

Zuletzt hat auch Israel wieder vermehrt zugeschlagen – zumindest ist das die Interpretation der seit Jahren laufenden Luftangriffe, der jedoch auch Jerusalem nicht widerspricht. Sie gelten in der Regel iranischen Zielen beziehungsweise der libanesischen Hisbollah oder anderen schiitischen Milizen. Auch diesmal wurden an der Grenze zum Irak nicht nur Iraner, sondern auch irakische Milizionäre getroffen. Angeblich gab es Tote, wie schon zuvor bei einem Angriff in Südsyrien.

In Damaskus versuchte Bashar al-Assad vergangene Woche durch die Bildung einer neuen Regierung Normalität zu vermitteln – die aber schon angesichts steigender Corona-Zahlen eine Illusion ist. Es gibt übrigens ein arabisches Land, das mehr als alle anderen dabei ist, die Beziehungen zu Assad wieder zu normalisieren: Und das sind die Vereinigten Arabischen Emirate, der neue Friedenspartner Israels. (Gudrun Harrer, 4.9.2020)