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Die EU hat Russland nach der Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny offen mit Sanktionen gedroht.

Foto: REUTERS/Yves Herman

Brüssel – Die EU hat Russland nach der Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny offen mit Sanktionen gedroht. In einer am Donnerstagabend veröffentlichten Erklärung heißt es, die Europäische Union rufe zu einer gemeinsamen internationalen Reaktion auf und behalte sich das Recht vor, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehörten auch Sanktionen.

Russischen Behörden gehen nun einem Medienbericht zufolge einem Mordverdacht nach. Russlands zentrale Ermittlungsbehörde habe eine ihrer Vertretungen in Sibirien beauftragt, die Möglichkeit eines Mordanschlags auf den Regierungskritiker zu untersuchen, meldete die Nachrichtenagentur RIA am Freitag. Bisher hatte Russland den Standpunkt vertreten, dass es keine Beweise für eine Straftat und damit keinen Anlass für strafrechtliche Ermittlungen gebe.

An Freitag werden außerdem Vertreter der Nato-Staaten in einer außerplanmäßigen Sitzung über mögliche Reaktionen auf die Vergiftung Nawalnys beraten. In Deutschland wird heftig diskutiert, ob als Sanktionsmöglichkeit auch ein Baustopp für die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 infrage kommen könnte. In Österreich haben SPÖ und Neos eine Aussprache mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) im Außenpolitischen Ausschuss des Nationalrats verlangt.

EU verurteilt "Mordversuch"

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte nun, die EU verurteile "den Mordversuch" an Nawalny "auf das Schärfste". "Die russische Regierung muss alles dafür tun, um dieses Verbrechen gründlich in aller Transparenz aufzuklären und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen", heißt es in der von Borrell im Namen der 27 Mitgliedstaaten veröffentlichten Erklärung. "Straffreiheit darf und wird nicht akzeptiert werden."

Der Einsatz chemischer Waffen sei unter keinen Umständen akzeptabel und stelle einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen dar. Borrell forderte Moskau auf, "uneingeschränkt" mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zusammenzuarbeiten, um eine "unparteiische internationale Untersuchung sicherzustellen".

Noch am Donnerstagmittag hatte ein Sprecher Borrells eher zurückhaltend auf Fragen zum Thema Russland-Sanktionen reagiert. Er sagte, solange man nicht wisse, wer verantwortlich sei, sei es schwierig, über Strafmaßnahmen zu sprechen.

Vorfall am 20. August

Die deutsche Bundesregierung hatte am Mittwoch nach Untersuchungen eines Speziallabors der Bundeswehr mitgeteilt, dass sie es als zweifelsfrei erwiesen ansehe, dass Nawalny mit dem militärischen Nervengift Nowitschok vergiftet worden sei. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem "versuchten Giftmord".

Der Oppositionspolitiker war am 20. August auf einem Flug in Russland plötzlich ins Koma gefallen und später auf Drängen seiner Familie in die Berliner Charité verlegt worden. Nach Angaben der Charité ist sein Gesundheitszustand weiter ernst.

Russland dementiert

Der Kreml in Moskau hatte eine mögliche Verwicklung in den Fall zurückgewiesen. Der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, sagte dem ZDF: "Ich möchte auch unsere deutschen Kollegen aufrufen: Solange die Situation nicht geklärt ist, jegliche Politisierung zu vermeiden und auf – sagen wir so – vorläufige Einschätzungen zu verzichten und sich nur auf die Fakten zu stützen." Er fügte hinzu: "Es wurde bereits berichtet, dass vor der Verlegung von Herrn Nawalny aus Omsk nach Berlin in seinen Proben keine Spuren von Giftstoffen nachgewiesen worden waren."

Nawalnys Weggefährte Leonid Wolkow sagte dem Sender RTL/n-tv, er habe nicht daran gezweifelt, dass Nawalny vergiftet worden sei. "Aber die Tatsache, dass sie Herrn Putins Lieblingsgift, das wie eine Unterschrift von ihm ist, benutzt haben, ist nach wie vor eine große Überraschung", sagte der Vertraute des Oppositionellen.

Nato-Treffen

Die Nato kündigte am Donnerstagabend ein außerplanmäßiges Treffen für diesen Freitag an. Nach der Sitzung des Nordatlantikrats auf Botschafterebene soll Generalsekretär Jens Stoltenberg eine Erklärung abgeben. Wahrscheinlich ist nach Angaben von Diplomaten, dass die Alliierten die russischen Behörden geschlossen zur lückenlosen Aufklärung des Falles auffordern. Weitergehende Maßnahmen im Nato-Rahmen gelten vorerst als eher unwahrscheinlich.

Berlin: "Erinnert an KGB-Methoden"

In Berlin soll sich das für die Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags mit dem Fall befassen, wie der Vorsitzende Armin Schuster (CDU) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am Freitag mitteilte. Die Sondersitzung werde aller Voraussicht nach am Montag stattfinden. "Uns interessieren die Umstände der Tat", sagte er – und die Frage, ob es sich um eine Geheimdienstoperation handele oder etwas anderes.

"Diese Methoden erinnern mich an das Ministerium für Staatssicherheit der DDR und den sowjetischen KGB", sagte Schuster. "Staatliche Mordaufträge gehörten zum Auftragsprofil bestimmter Dienste im Osten. Man mag sich das nicht vorstellen: Aber wir sind da wieder angekommen."

Erneute Debatte über Nord Stream 2

Der Fall hat die Debatte um die Gaspipeline Nord Stream 2 in der Ostsee, die russisches Gas nach Deutschland liefern soll, neu angefacht. Forderungen nach einem Stopp oder einem Moratorium für das deutsch-russische Projekt kamen bislang unter anderem von den Grünen, der FDP und vom CDU-Außenexperten Norbert Röttgen. Durch die deutsch-russische Leitung in der Ostsee soll russisches Gas nach Deutschland geliefert werden. Merkel hatte allerdings erst vergangene Woche deutlich gemacht, dass sie den Fall Nawalny nicht mit Nord Stream 2 verknüpfen wolle.

Österreich forderte am Mittwoch eine unabhängige und transparente Untersuchung des Angriffs auf Nawalny. "Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir verurteilen unmissverständlich den Einsatz von chemischen Waffen unter allen Umständen", erklärte das Außenministerium auf Twitter. (APA, dpa, 4.9.2020)