Am Ende liegt es immer in der Familie: wovor wir Angst haben, wen wir lieben und warum, vor wem wir davonlaufen, ob wir überhaupt lieben können. Will man verstehen, wie die Familie sich, gleich Sedimentschichten, in einem Menschen ablagert, war man bei David Grossman schon immer gut aufgehoben.

Grossman selbst erfuhr während der Arbeit am Roman, dass sein eigener Sohn im Libanon-Krieg getötet worden war.
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Der israelische Schriftsteller ist ein Meister, wenn es darum geht, von Traumata zu erzählen – und davon, was sie mit einem Familiengefüge anstellen. Er hat das zuletzt etwa in Kommt ein Pferd in die Bar (2016) gezeigt, das von einem Mann handelt, dessen ganzes Leben von der Geschichte seiner Eltern, zweier Holocaust-Überlebender, geprägt ist. In Eine Frau flieht vor einer Nachricht (2009) ist es die Mutter, die vor der Nachricht davonläuft, dass einer der Söhne beim Kriegseinsatz im Westjordanland gefallen ist. Grossman selbst erfuhr während der Arbeit am Roman, dass sein eigener Sohn im Libanon-Krieg getötet worden war.

In seinem neuesten Roman Was Nina wusste wurzelt das Trauma in der nicht minder brutalen Nachkriegszeit. Das, was hier die Lebensläufe von drei Generationen Frauen prägt, ist auf der kroatischen Gefängnisinsel Goli Otok passiert, in einem der Lager von Titos Geheimpolizei. Hierhin wurde Vera gebracht, nachdem ihr Mann Miloš im Gefängnis unter Spionagevorwurf Selbstmord begangen hatte. Ihre sechsjährige Tochter, die titelgebende Nina, bleibt zurück.

Es ist die wahre Geschichte von Eva Panić-Nahir, die 2015 starb und in Jugoslawien für ihren Mut und ihre Stärke gerühmt und verehrt wird. Es gibt Biografien und Dokumentationen über sie, Danilo Kiš widmete ihr eine Sendereihe im serbischen Fernsehen. Die Jüdin Panić-Nahir emigrierte in einen israelischen Kibbuz und heiratete dort erneut. Auch bei Grossman beginnt die Geschichte im Kibbuz, aber sie beginnt mit einem Teil, den er vermutlich hinzuerfunden hat – im Nachwort bedankt er sich bei Eva und ihrer Tochter Tiana Wages explizit dafür, dass sie ihm zugestanden, die Geschichte so zu "erfinden, wie sie niemals gewesen ist". Der Witwer, den Vera im Roman heiratet, hat einen halbwüchsigen Sohn, Rafael, der sich Hals über Kopf in die unnahbare und rätselhafte Tochter Veras, Nina, verliebt. Die beiden bekommen zusammen eine Tochter, Gili, doch Nina, selbst als Kind von ihrer Mutter im Stich gelassen, ist nicht in der Lage, für ihr Kind zu sorgen.

David Grossman,"Was Nina wusste". Aus dem Hebräischenvon Anne Birkenhauer.€ 25,70 / 352 Seiten. Hanser-Verlag, 2020
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Konfrontation mit der Vergangenheit

Ein großer Teil des Romans handelt davon, wie diese vier im bereits fortgeschrittenen Alter (Vera ist 90, ihre Enkelin Gili bald 40) nach Goli Otok fahren. Ihr Ziel: Konfrontation mit und dadurch Befreiung vom Trauma – besonders für Nina, die ein unstetes, selbstzerstörerisches (Sexual-) Leben führt. Vor allem ihr soll Vera erzählen, was damals wirklich passiert ist und wie es zu der verhängnisvollen Entscheidung kam, ins Gefängnis zu gehen und Nina ihrem Schicksal zu überlassen. Das Setting ist dankbar und klug gewählt: Rafael ist Regisseur, Gili Scriptgirl, der Besuch auf Goli Otok soll – auf Ninas Wunsch – filmisch festgehalten werden. Dieser Zugriff ermöglicht Grossman unterschiedliche, sich natürlich oft widersprechende Ebenen: die Erzählperspektive Gilis, die während der Reise mitschreibt. Die Bildspur des Films, die Gesten und Blicke. Und schließlich die Tonspur, das, was gesagt wird – sozusagen die bewusste Ebene.

Vera erlöst ihre Tochter nicht, sie sagt ihr, was diese letztlich schon immer gewusst oder zumindest geahnt hat: Sie hat den toten Mann der lebendigen Tochter vorgezogen. Sie ging, vor die Wahl gestellt, lieber ins Gefängnis, als etwas zu unterschreiben, das ihn als Spion verleumdet hätte. In der Dokumentation der realen Reise nach Goli Otok formuliert Eva es noch ein wenig härter: Sie hätte ja neue Kinder kriegen können – aber den Mann gab es nur einmal.

Die Untiefen, die sich da auftun, zwischen dieser bedingungslosen Liebe und dem unfassbaren Leid, das um dieser Liebe willen angerichtet wird, lotet Grossman mit Empathie für seine Figuren aus, ohne dabei Ambivalenzen wegzuwischen. Man muss dazu sagen, dass er die erzählerische Freiheit, die ihm zugestanden wurde, manchmal arg ausreizt (unter anderem spielt eine Arktis-Insel eine handlungstreibende Rolle, mehr darf hier nicht verraten werden) – aber gerade da merkt man, wie gut Grossman ist: Er erzählt souverän und sicher, dass die Konstruktion dahinter kaum auffällt. Und letztlich bleibt seine psychologische Genauigkeit, seine Lebensweisheit und Wärme, die er sich selbst hart erarbeiten musste. (Andrea Heinz, 6.9.2020)